Freitag, 11. September 2015

Ja, genau


Am Montag war, wie männiglich bekannt, in Teilen des Bundesgebiets der erste Schultag. Wie das Amen im Gebet (oder eigentlich eher wie das Kommherjesus vor dem Essen) kamen in den Tagen davor mediale Wortmeldungen zum Thema Schule und Bildung. Und wie immer frage ich mich, was mit den Leuten los ist.

Im Standard wurde Frau Olivia Markl, Trainerin bei Teachforaustria, einer anscheinend löblichen Organisation mit hehren Zielsetzungen, zitiert: Unterricht nach Schulbuch führe zu „Faktenwissen statt zu profundem Verständnis“. Und außerdem: „Wozu man etwas braucht, steht nicht im Schulbuch.“

Löbliche Ziele hin oder her, da stehen die beiden Säue einträchtig und startbereit nebeneinander, die jedes Mal durchs Dorf getrieben werden, wenn es um das österreichische Bildungssystem geht: ein pejorativer Gebrauch des Wortes „Faktenwissen“, das anscheinend im Gegensatz zum „Verständnis“ steht. Und die Anwendbarkeit, die so manches zeitbestimmte pädagogische Konzept vor sich her trägt wie in meiner Kindheit der Pfarrer die Monstranz bei der Prozession zu Maria Himmelfahrt.

Ich weiß nicht, was ich seltsamer finde. Bei ganz vielen Dingen weiß man das halt nicht auf Anhieb, wozu man sie einmal brauchen kann. Auch wenn man sie vollrohr verstanden hat. Ich will die Auswahl des Lehrstoffes auch nicht der Frau Markl anhand ihrer Kriterien von „Brauchbarkeit“ überlassen. Dazu kenne ich sie nämlich zu wenig.

Vor allem aber hat mir noch nie jemand nahebringen können, was es mit der Brauchbarkeit auf sich habe.

Als nämlich Arthur Conan Doyle seinen Sherlock Holmes erschaffen hat, hat er ihm manches Volksschulwissen vorenthalten: Sherlock weiß ausdrücklich nicht, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und er wirft es Dr. Watson in einer berühmten Passage vor, ihm diese Information vermittelt zu haben, die sein Hirn nutzlos belastet, ohne ihm bei seiner detektivischen Tätigkeit irgendeinen Nutzen zu versprechen.

Daran muss ich immer denken, wenn irgendwer das mit der Brauchbarkeit daherbringt. Natürlich steht, da hat Frau Markl recht, nicht im Schulbuch, wozu man etwas braucht. Aber wer zum Geier hat behauptet, dass Brauchbarkeit das allein entscheidende Kriterium sei? Ich bestimmt nicht. Und so lange wir nicht in die Zukunft sehen können, wäre das auch schwachsinnig. Bis dahin nämlich kann niemand sagen, ob ein einzelnes, bestimmtes, individuelles Schulkind mehr davon profitiert, dass es den Lebenszyklus des Grasfrosches illegalerweise zuhause mitverfolgt, oder dass es innigst behirnt hat, wie man einer Pyramide eine Kugel eine Pyramide eine Kugel etc. einschreibt. Vielleicht stopft es sich auch einfach mit fadem Geographie-Faktenwissen voll und gewinnt dann in der Millionenshow!

Soviel zur  Brauchbarkeit.

Womöglich noch unüberlegter scheint es mir, Fakten gegen Verständnis in Stellung zu bringen. Was bitteschön ist schlecht daran, Fakten darüber zur Kenntnis zu nehmen, wie die Donau beschaffen ist? Ich hatte einst Nachhilfeschüler, denen ein paar Fakten verdammt nochmal nicht geschadet hätten. Dann wäre es ihnen erspart geblieben, damit zu reüssieren, dass „Vorarlberg die Hauptstadt von Kärnten“ sei. Fakt: Sowas lässt einen doof dastehen. Und was um Himmels willen sollen Schüler denn „profund verstehen“, wenn wir ihnen die Konfrontation mit hirntötenden Fakten so nötig ersparen wollen? Man versteht ja nicht einfach, sondern man versteht etwas. Über dieses Etwas muss man sich drübertrauen.

Am allerseltsamsten ist aber, dass die Opposition von Fakten und Verständnis nur im Schulalter gilt. In der sogenannten „frühkindlichen Förderung“ ist es anscheinend total wichtig, schon die Dreijährigen mit faktisch nachvollziehbaren Kompetenzen anzufüllen, auf dass sie mit 35 Jobs haben, die es ihnen gestatten, ihre Brut ebenfalls betreuen zu lassen.

Und nach der Schule finden wir es vollrohr okay, junge Menschen an Fachhochschulen mit möglichst viel rasch verwertbarem Faktenwissen vollzustopfen, ohne auf tieferes Verständnis großen Wert zu legen. Ich kenne viele aktuelle und gewesene Fachhochschülerinnen, und ich hatte den Mangel an Vergnügen, viele ihrer Abschlussarbeiten zu lesen. Aber noch keine hat mir das Gegenteil versichert. 

Fakt: Menschen im Schulalter haben nicht das geringste Problem damit, sich Faktenwissen anzueignen. Sonst hätte Pokémon die Verbreitung eines Bibelkommentars im 12. Jahrhundert genossen.

Fakt: Künstlich Gegensätze herbeizureden hat nichts mit einer Diskussion über Qualität in der Bildung zu tun. Es hat nur mit Gerede zu tun. Denn ein Reden über Bildungsqualität kommt genauso wenig ohne Reden über Lehrerqualität aus wie ein Reden über Werbungsqualität ohne ein Reden über Texterqualität auskommt. Und das Reden über Lehrerqualität kommt nicht aus ohne ein Reden über die schulischen und gesellschaftlichen Umstände, unter denen Lehrpersonal hochwertige Leistung erbringen kann oder eben nicht.

Hier geht es nicht um Bildung, hier geht es nur ums Reden darüber. Der Texter nimmt zur Kenntnis, dass Worte tatsächlich mitunter etwas bewirken können. Das eine Auge lacht, ins andere ist mir grade ein Staubkorn geflogen.

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