Kann sich noch jemand an die Zeiten erinnern – nicht an die
Zeiten, da wir so lauschig beim Wirten saßen oder keine Bedenken hatten, von
der Polizei belästigt zu werden, nur weil wir draußen waren – sondern an jene
Zeiten, als „die Krise eine Chance“
war? Misstrauische Misanthropen sahen sie freilich schon damals als Chance, bullshit artists umweglos zu agnoszieren,
nämlich als jene, die uns die Krise als Chance auf noch irgendwas anderes
verkaufen wollten.
Das soll freilich nicht heißen, dass es an der aktuellen
Lage nichts Positives zu finden gäbe. Das Zweckdichterbalg zum Beispiel findet
den Lockdown rundum gucci – man darf
länger schlafen, muss kaum bis gar nicht mit ungeliebten Mitschülerinnen interagieren,
jeden Abend ist Fernsehabend, und die Bewegung an der frischen Luft ist auf das
kurzseitig verordnete Minimum beschränkt.
Aus Vatersicht bleiben freilich Kritikpunkte offen. Nämlich
kann „Fernsehabend“ auch „GNTM-Abend“
bedeuten, wenn man Pech hat und es Donnerstag ist. GNTM ist, für alle beneidenswert
Ahnungslosen, zwar zunächst ganz lustig (besonders dann, wenn man mit teeniehafter
Kaltschnäuzigkeit betreffend die Wünsche und Hoffnungen der zur Schau
gestellten Jungmädchen gesegnet ist). Schon bald erschöpft sich aber der Reiz
der Sendung, der vor allem darin besteht, dass obgedachte Jungmädchen im Wege
fantasievoller Aufgaben gequält werden, denen sie sich bereitwillig unterziehen,
obgleich diese nicht das Geringste mit den üblichen Tätigkeiten eines Models zu
tun haben. „Heute müsst ihr eine Rede halten“
– man ist erstaunt, dass nicht einmal Hexe Heidi dabei in schadenfrohes
Gelächter ausbricht.
Wie gesagt, ein Weilchen ist es lustig, es beschleicht einen
aber bald das Gefühl, dass hier so manche Chance auf gepflegte
Fernsehunterhaltung mit Füßen getreten wird. Denn warum bei „Redehalten“, Unterwassershooting
oder Haareschneiden stehen bleiben? Es gibt so viele unterhaltsame Bewerbe, die
womöglich noch weniger mit Modeln zu tun haben als Redenschwingen, zum
Beispiel:
Stricken
Pfahlsitzen (dafür gab es bis 2003 sogar eine Weltmeisterschaft)
Buchtelnbacken für Starfotografen
Aufsatzschreiben
Nachdenken (hier bitte ein Crossover mit jenem zu Unrecht in
Vergessenheit geratenen Radiobewerb, in dem Stermann und Grissemann den Top-Philosophen
suchten)
Und so weiter. Kurz: Hier wird Unterhaltungspotenzial
leichtfertig verschenkt! Selbst das Nacktshooting ist ja von erstaunlicher
Reizlosigkeit geprägt, wie hübsch wäre es stattdessen, den Frauen beim Autogenschweißen (Flashdance, schau oba!), Kunststopfen
oder meinetwegen auch Rachenabstrichnehmen
zuzuschauen!
Und das ist erst der Anfang. Wer hat gesagt, dass es nur um
Models gehen darf? Mit etwas Glück verschönern wir uns noch viele Lockdownabende
mit Sendungen, in denen der Top-Irgendwas sich beweist, indem sie oder er
irgendwas ganz anderes tut. Der nächste Top-Texter sitzt in der Makrameeklasse,
die nächste Top-Fotografin bringt ihrem Hund ein Kunststück bei, die nächste Top-Unternehmensberaterin
putzt Fenster so perfekt, dass man sie kaum mehr sehen kann, und der nächste
Top-Kanzler legt seine politische Vision dar.
Schönes Wochenende!