Freitag, 17. April 2020

Something completely different


Kann sich noch jemand an die Zeiten erinnern – nicht an die Zeiten, da wir so lauschig beim Wirten saßen oder keine Bedenken hatten, von der Polizei belästigt zu werden, nur weil wir draußen waren – sondern an jene Zeiten, als „die Krise eine Chance“ war? Misstrauische Misanthropen sahen sie freilich schon damals als Chance, bullshit artists umweglos zu agnoszieren, nämlich als jene, die uns die Krise als Chance auf noch irgendwas anderes verkaufen wollten.
Das soll freilich nicht heißen, dass es an der aktuellen Lage nichts Positives zu finden gäbe. Das Zweckdichterbalg zum Beispiel findet den Lockdown rundum gucci – man darf länger schlafen, muss kaum bis gar nicht mit ungeliebten Mitschülerinnen interagieren, jeden Abend ist Fernsehabend, und die Bewegung an der frischen Luft ist auf das kurzseitig verordnete Minimum beschränkt.
Aus Vatersicht bleiben freilich Kritikpunkte offen. Nämlich kann „Fernsehabend“ auch „GNTM-Abend“ bedeuten, wenn man Pech hat und es Donnerstag ist. GNTM ist, für alle beneidenswert Ahnungslosen, zwar zunächst ganz lustig (besonders dann, wenn man mit teeniehafter Kaltschnäuzigkeit betreffend die Wünsche und Hoffnungen der zur Schau gestellten Jungmädchen gesegnet ist). Schon bald erschöpft sich aber der Reiz der Sendung, der vor allem darin besteht, dass obgedachte Jungmädchen im Wege fantasievoller Aufgaben gequält werden, denen sie sich bereitwillig unterziehen, obgleich diese nicht das Geringste mit den üblichen Tätigkeiten eines Models zu tun haben. „Heute müsst ihr eine Rede halten“ – man ist erstaunt, dass nicht einmal Hexe Heidi dabei in schadenfrohes Gelächter ausbricht.
Wie gesagt, ein Weilchen ist es lustig, es beschleicht einen aber bald das Gefühl, dass hier so manche Chance auf gepflegte Fernsehunterhaltung mit Füßen getreten wird. Denn warum bei „Redehalten“, Unterwassershooting oder Haareschneiden stehen bleiben? Es gibt so viele unterhaltsame Bewerbe, die womöglich noch weniger mit Modeln zu tun haben als Redenschwingen, zum Beispiel:

Stricken 
Pfahlsitzen (dafür gab es bis 2003 sogar eine Weltmeisterschaft)
Buchtelnbacken für Starfotografen
Aufsatzschreiben
Nachdenken (hier bitte ein Crossover mit jenem zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Radiobewerb, in dem Stermann und Grissemann den Top-Philosophen suchten)

Und so weiter. Kurz: Hier wird Unterhaltungspotenzial leichtfertig verschenkt! Selbst das Nacktshooting ist ja von erstaunlicher Reizlosigkeit geprägt, wie hübsch wäre es stattdessen, den Frauen beim Autogenschweißen (Flashdance, schau oba!), Kunststopfen oder meinetwegen auch Rachenabstrichnehmen zuzuschauen!
Und das ist erst der Anfang. Wer hat gesagt, dass es nur um Models gehen darf? Mit etwas Glück verschönern wir uns noch viele Lockdownabende mit Sendungen, in denen der Top-Irgendwas sich beweist, indem sie oder er irgendwas ganz anderes tut. Der nächste Top-Texter sitzt in der Makrameeklasse, die nächste Top-Fotografin bringt ihrem Hund ein Kunststück bei, die nächste Top-Unternehmensberaterin putzt Fenster so perfekt, dass man sie kaum mehr sehen kann, und der nächste Top-Kanzler legt seine politische Vision dar.
Schönes Wochenende!

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