Freitag, 13. Mai 2016

In der Satzkurve

Bundeskanzler kommen und irgendwann gehen sie auch wieder. Da muss man manchmal einfach Geduld haben.  An dem jetzigen stimmt mich misstrauisch, dass er in seinem Job als ÖBB-Chef nicht wirklich sensationell bezahlt war. Ich meine, was für ein Topmanager bin ich, wenn der Post-Vorstandschef dreieinhalbmal so viel verdient wie ich?
Wie auch immer: So wie die Politik derzeit beschaffen ist, reiße ich mir lieber eine sprachliche Frage her. Falls wir die Antwort finden, ist sie wahrscheinlich auch haltbarer als die Umfrageergebnisse von Norbert Hofer. Mich beschäftigt, warum ich über Formulierungen wie diese stolpere: „Seine Umgangsformen seien veraltet, selbiges gelte für Weltanschauung und Stecktuchstil.“
Mein Stolperstein ist selbiges. Gegen selbiges habe ich prinzipiell natürlich nichts. „Mindestens ebenso brisant wie die Ansichten des Kandidaten ist das Interesse seiner Wähler an selbigen“, oder auch „Selbiger [der Parteivorstand] leckt sich noch seine Wunden“ – da sitzt alles fugenlos.
Der Unterschied ist klar: Im ersten Fall springt selbiges für dasselbe ein, im zweiten und dritten hingegen hat es hinweisende Funktion. Hier könnte auch diese oder jener stehen.
Doch das wirft nur eine neue Frage auf. Selbiges ist doch dasselbe wie dasselbe, oder? Warum sollte also im ersten Beispiel nicht selbiges stehen?
Wo man sich in solchen Fällen schlau macht, wissen wir ja: im Grimmschen Deutschen Wörterbuch. Es lehrt uns, dass selbiges ein ziemlich bewährtes und gut abgehangenes Wort ist, mit Belegstellen seit den Kinderjahren des Neuhochdeutschen. Allerdings hat es meistens nicht allein gechillt, sondern mit seinem Kumpel bestimmter Artikel, also: der-, die-, dasselbige.
Im 17. Jahrhundert ist die Freundschaft zwischen den beiden dann ein bisschen gewohnheitsmäßig geworden, seither findet man selbiges auch allein, d.h. ohne Artikel. Allerdings steht es in den Belegstellen der Grimms immer mit dem referenzierten Substantiv: selbigen Abend, unter selbigem Grab, in selbiger Nacht. In die Umgebung dieser Formulierung gehört wohl auch das schöne Lokaladverb daselbst. Auch als Demonstrativpronomen in der Bedeutung dieses oder jenes kennen die Brüder selbiges, bemerken aber: „diese ausdrucksweise, im 17.-18. Jahrh. nicht selten, ist heute in mustergiltiger, dialectfreier schriftsprache ganz abgekommen und findet sich nur noch in absichtlich archaisierender oder volksthümelnder sprechweise.“ Die Diagnose stammt, wohlgemerkt, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, woran man sieht, dass auch Wörterbuchtitanen sich täuschen können, hat doch das demonstrative selbige im Journalismus der gehobenen Mittelklasse auch heute noch seine Fans.(Und ja, die Brüder Grimm schreiben klein.)
Was lernen wir daraus? Das Deutsche Wörterbuch kennt die Fälle 2 und 3, nicht aber den ersten. Die Ursache meines Stolperns gewinnt damit ebenfalls Konturen: Wenn selbiges die Identität bedeuten soll, hat es damit für mein Gefühl schon genug zu tun. Um außerdem den Bezug zu einem Wort in einem anderen Satz oder Nebensatz herzustellen, hätte es gern Verstärkung von der, die, das. Das ist wie Lenken und Bremsen gleichzeitig: Da kann es dich leicht aus der Kurve hauen, und als Erkenntnisgewinn bleibt dir nur noch, was Walter Röhrl erklärt hat: Wenn du den Baum nur hörst, war es Übersteuern. Wenn du ihn vorher siehst, war es Untersteuern.
So auch im Satzbau. Es mag schon sein, dass es im Sinne der gängigen Regelwerke zulässig ist, selbiges der Doppelbelastung von Verweis und Identitätsbedeutung auszusetzen. Gönnen wir ihm aber trotzdem die Unterstützung des Artikels. Auch Wörter haben manchmal mehr als genug zu tun.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen