Freitag, 20. September 2019

Haarig

Die Kunst, o vielgeliebte Lesehäschen, ist eine schöne Sache. Das unterscheidet sie von der Politik, die von Haus viel Unerfreuliches mit sich bringt. Umso seltsamer ist es, dass die beiden in den letzten Jahren so peu-a-peu ihre Plätze auf dem moralischen Kompass getauscht zu haben scheinen, soweit es die Perspektive spießig-steuerzahlender Bildungsbürger, wie euer sehr Ergebener einer ist, betrifft.
Früher nämlich war so ein Künstler ein wilder Hund. Vielleicht nicht zwingend ganz so wild wie Benvenuto Cellini, der nach dem Frühstück einem Rivalen das Stilett zwischen die Rippen jagte, ehe er die Saliera schuf oder so ähnlich, aber doch wild genug, um uns Normalos wohlig erschauern zu lassen und wieder unsere Vermutung bestätigt zu sehen, dass Genie und Wahnsinn undsoweiter. Alkohol, Drogen, Frauen, Männer – von allem, was Spaß macht, durfte sich der Künstler (und die Künstlerin, Amy Winehouse, schau oba!) etwas bis deutlich mehr gönnen, als eigentlich gesund und akzeptabel war, denn, wie es in einem wirklich nicht üblen Film mit Mark Wahlberg hieß, He’s a rockstar now, da gelten andere Regeln.
Politiker hingegen hatten gefälligst verheiratet, treu und nüchtern zu sein. Man machte Urlaub zuhause oder höchstens im benachbarten Ausland. Die einzige erlaubte Droge war Schnaps, und das auch nur im Wahlkampf. Finanzielle Exzesse galten keineswegs als vertrauensbildende Maßnahme.
Heute ist es umgekehrt: Künstler haben brav zu sein, sonst fliegen sie aus den Galerien beziehungsweise Playlists. Wer zum falschen Zeitpunkt dem Falschen an den Hintern greift, wird selbst noch nachträglich aus dem Film geschnitten. Denn Kunst hat gefälligst sauber zu sein. (Ausnahme: Wenn der Künstler schon tot, das Kunstwerk aber wertvoll ist, kümmert es keine Sau, ob er ein Schweindi war. Anscheinend geht es nicht darum, reine Gesinnung zu beweisen, sondern normwidriges Verhalten zu bestrafen.)
Politiker hingegen können gar nicht so ungeniert saufen, schnupfen oder prassen, dass sich nicht eine Klientel fände, die sie nicht etwa trotzdem wählt, sondern, wie Hans Rauscher kürzlich vermutet hat, gerade deshalb: Man gibt seine Stimme heute nicht den Leuten, denen man am ehesten die Verwirklichung der eigenen gesellschaftlichen Vision zutraut, sondern jenen, die am ruchlosesten so hinlangen, wie man es selber gerne täte, wenn man denn könnte. Indem man die größten Schufte wählt, die sich finden lassen, holt man sich vorbeugend die Absolution für die Schweinereien, die man irgendwann zu begehen hofft, wenn sich nur eine Gelegenheit dafür findet. Denn „die sind ja auch nicht besser“. Die Vision hat nicht mehr eine bessere Welt zum Inhalt, sondern das Ungeschoren-Davonkommen mit einer größeren persönlichen Bereicherung. Ein 600-Euro-Haarschnitt mag ein Witz sein, er ist aber ein obszöner Herrenwitz der untersten Schublade, wenn sich der fesche Träger jenes Haarschnitts im öffentlich-rechtlichen Fernsehen minutenlang über die Situation von Menschen verbreiten darf, denen er durch eine Pensionserhöhung geholfen zu haben behauptet, die ihnen in vier Jahren eine Gesamtverbesserung im Wert eines solchen Haarschnitts bringt. Wer abends nicht einschlafen kann, der zähle nicht etwa Schafe, sondern male sich aus, was die PR-Maschinerie der ÖVP für einen Festtag gehabt hätte, wäre zu jener Zeit ans Licht gekommen, dass z. B. Christian Kern seinem Coiffeur routinemäßig sechs Hunnis zuzuschieben pflege. Wohlfrisiertes Wochenende!

Freitag, 13. September 2019

Mit Stimmen abstimmen

Wahlkampf ist, o teure Häschen. Ich offeriere diese Information zum Zeichen meiner Serviceorientierung, weil man es sonst fast nicht gemerkt hätte. Das liegt erstens daran, dass die ÖVP sich schon selber nicht mehr auskennt, ob sie jetzt wahlkämpft oder nicht, und zweitens daran, dass alle sehr wohl wahlwerbenden Parteien bis jetzt der Versuchung widerstanden haben, „Stopp dem Sonstnochwas“ zu fordern. Das ist einerseits sehr löblich, andererseits irritierend, weil die ebenso sonderbare wie fragwürdige Formulierung „Stopp dem“ wahrscheinlich in der ganzen 2. Republik die Echtheitspunze jedes ordentlichen Wahlkampfs dargestellt hat. Selbst wenn jemand Elternvertreterstellvertreter in der 3. Volk werden wollte, ging das nicht ohne „Stopp dem Kinder-mit-Auto-in-die-Schule-bring-Wahnsinn“. Glaube ich, meine Erinnerungen an die Elternvertreterstellvertreterwahlen in der 3. Volk sind eher vage.
Wozu überhaupt Wahlkampf? Natürlich, damit man weiß, für wen man stimmen soll. Oder abstimmen? Die Meinungen gehen auseinander. Kürzlich erreichte euren Ergebenen eine einschlägige Korrektur: „Stimmen Sie für Ihren Liebling“ sei zuwenig, das müsse heißen: „Stimmen Sie für Ihren Liebling ab.“ Erfreulich daran ist das Gespür, das die Verantwortlichen fühlen hat lassen, dass hier ein Unterschied bestehe. Betrüblich ist, dass man sich zielsicher für die ungeeignete Version entschieden hat. Denn wenn ich für meinen Lieblingswirten stimme, dann schreibe ich auf einen Bierdeckel seinen Namen, damit er die Wahl zum besten Wirten gewinne. Wenn ich für meinen Lieblingswirten abstimme, dann vertrete ich ihn bei einer Abstimmung. Er hat mir nämlich rechtzeitig eine Vollmacht mitgegeben, damit ich bei der Wahl zum Elternvertreterstellvertreter in der 3. Volk in seinem Namen eine Stimme abgeben kann.
Dieses Amt kann man sich in der Regel mit einem Dutzend ehrlicher Stimmen locker sichern und dann gleich das entsprechende Wunschkennzeichen (W EVSV3) bestellen. Oder mit einem Dutzend ehrlichen Stimmen? Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, beides. Da hat man die freie Wahl. Denn man bereitet einen Krüglmartini zwar auf jeden Fall mit einer Handvoll grüner Oliven und niemals mit einer Handvoll grünen Oliven. Deshalb scheint es mir auch nicht zulässig, eine Handvoll grüne Oliven (ohne r) hineinzukippen. Was dem Dativ recht ist, muss für den Akkusativ billig sein! Dies einerseits.
Andererseits kann der Cocktailexperte eine Kreation stets nur mit zwei frischen Orangenscheiben bereiten und nicht mit zwei frischer Orangenscheiben, das ist ja klar wie dreifach filtrierter Wodka. Beim Dutzend aber geht beides, glaube ich. Denn Dutzend ist zwar kein Zahlwort, nicht einmal ein unbestimmtes Zahlwort (wie einige, wenige etc.), sondern einfach ein Substantiv, das sich für Mengenangabe verwenden lässt, so wie die Messerspitze oder die Handvoll. In dieser Eigenschaft dürstet es nach dem Genitiv, und zwar nach dem Genitivus partitivus, der ausdrückt, dass man ein feiner Mensch ist: Man nimmt nicht die ganze Hand, sondern nur einen Teil (lateinisch: pars) davon – eine Messerspitze, eine Handvoll, einen Spritzer.
Trotzdem bedeutet das Dutzend eine ganz bestimmte Zahl und kann diese ersetzen. Zahlwörter ihrerseits (nämlich Kardinalzahlen wie drei oder vier im Unterschied zu drittens, achtfach usw.) bleiben bis auf die drei kleinsten undekliniert und regieren keinen bestimmten Fall. Wenn davor mit steht, kommt danach immer der Dativ, mit für immer der Akkusativ, egal ob es um fünf Zwetschken oder um sieben Exminister geht. Deshalb kann man ebensogut mit einem Dutzend angefressenen Weißwählern diskutieren wie mit einem Dutzend angefressener Weißwähler. Es dürfte nicht schwierig sein, sie zu finden. Schönes Wochenende!

Freitag, 6. September 2019

Abholung

Was, ihr seid immer noch hier? Ach liebe Häschen, da macht sich euer Kolumnator jetzt aber Sorgen. Offensichtlich scheitert ihr immer wieder in eurem Streben nach dem höchsten Glück, das man sich heute unter Aufbietung aller Vorstellungskraft auszumalen vermag: „abgeholt“ zu werden. Jemanden „abzuholen“ ist das Äußerste, Beste, Herrlichste, was Kommunikation heute zu leisten vermag.
Das war nicht immer so. Früher galt es den Leser oder Hörer je nach Textsorte zu überzeugen, zu bezaubern, zu verführen, zu interessieren, einzuschüchtern oder zu verschrecken. Nicht selten wollte man ihm etwas erklären, näherbringen, darlegen, unterbreiten, vorschlagen oder auseinandersetzen. Damals hatte man als Empfänger einer Botschaft halt noch jene Art von Auswahl, von der Ex-DDR-Bürger sich Anfang 1990 in deutschen Supermärkten gern überfordern ließen.
Heute: wirst du abgeholt, sonst bleibst du da.
Das wirft natürlich die eine oder andere kitzlige Frage auf, allen voran: Willst du überhaupt hier weg? Denn es ist natürlich ein Drama, wenn du nicht abgeholt wirst. Zum Beispiel, wenn du vier bist und die frühkindliche Pädagogin unauffällig zur Uhr hin schielt, weil es schon 17.30 Uhr ist und deine Mama sich nirgends blicken lässt, und übrigens kriegen es auch kleine Kinder mit, wenn du unauffällig auf die Uhr zu schielen versuchst. Nicht alles im Leben wartet aber aufs Abgeholtwerden wie ein Amazonpaket im 24-Stunden-SB-Bereich.
Wie ist das passiert? In den Nullerjahren (aus heutiger Sicht eine Zeit der Unschuld, aus damaliger eher nicht) wurde gern gefordert, den Leser „dort abzuholen, wo er ist“. Das war natürlich schon ein Käse, denn wenn ausgemacht ist, dass du deinen Haberer vor der Tenne abholst, weil du eine Zweisitzer-Vespa hast und seine Puch einen neuen Auspuff braucht, dann wirst du nicht stundenlang im Gasthof zur Post sitzen und warten, wann er endlich daherkommt. Klar holt man jemanden dort ab, „wo er ist“. Sonst zählt es nicht als „abholen“, sondern höchstens als „verpeilt herumhocken“.
Als wäre das nicht doof genug gewesen, ist abholen jetzt aber echt das Größte. The bee’s knees, wie die Amerikaner sagen. Es heißt nicht mehr das gefällt mir, sondern das holt mich ab. Nicht das spricht mich an, sondern das holt mich ab. Nicht das finde ich gelungen, sondern – ihr wisst schon. Man ist nicht einmal mehr hin und weg, sondern das hat mich total abgeholt. Nur wohin? Ins Land der Begeisterung? Und wenn es dich abgeholt hat, warum bist du immer noch da?
Man könnte sagen, euer Kolumnator hat ein Thema mit dem Wort abholen. Man stößt sich nämlich auch nicht mehr an einem Sachverhalt, etwas bedarf nicht der Klärung oder Optimierung, es gibt nichts mehr, worüber wir reden müssten – nein: wir haben ein Thema. Ein Thema zu haben ist das negative Gegenstück zum abholen. Ein Thema ist nicht etwa interessant oder neu. Wenn wir ein Thema haben, ist das immer schon schlecht. Hätten wir keines, könnten wir stattdessen Candycrush spielen oder uns darüber amüsieren, dass die ÖVP genau dann gehackt worden ist, wenn Unterlagen auftauchen, die ein Fehlverhalten belegen. Die sind dann nicht von der ÖVP, die wurden gefälscht. Statt uns daran zu freuen, haben wir ein Thema, also eine lästige Aufgabe. Erst wenn wir uns um all diese Themen, Themata oder, wie die Leute, die ein Thema haben, gern sagen: Themas, erfolgreich gekümmert haben, dann erreichen wir endlich den Zustand, von dem alle träumen: Wir wurden nicht etwa abgeholt. Nein: Wir fühlen uns abgeholt. Denn das Abgeholtwerden ist etwas derart Euphorisierendes, dass wir danach vor lauter Glück nicht einmal sicher sagen können, ob es uns widerfahren ist. Schönes Wochenende!