Freitag, 6. September 2019

Abholung

Was, ihr seid immer noch hier? Ach liebe Häschen, da macht sich euer Kolumnator jetzt aber Sorgen. Offensichtlich scheitert ihr immer wieder in eurem Streben nach dem höchsten Glück, das man sich heute unter Aufbietung aller Vorstellungskraft auszumalen vermag: „abgeholt“ zu werden. Jemanden „abzuholen“ ist das Äußerste, Beste, Herrlichste, was Kommunikation heute zu leisten vermag.
Das war nicht immer so. Früher galt es den Leser oder Hörer je nach Textsorte zu überzeugen, zu bezaubern, zu verführen, zu interessieren, einzuschüchtern oder zu verschrecken. Nicht selten wollte man ihm etwas erklären, näherbringen, darlegen, unterbreiten, vorschlagen oder auseinandersetzen. Damals hatte man als Empfänger einer Botschaft halt noch jene Art von Auswahl, von der Ex-DDR-Bürger sich Anfang 1990 in deutschen Supermärkten gern überfordern ließen.
Heute: wirst du abgeholt, sonst bleibst du da.
Das wirft natürlich die eine oder andere kitzlige Frage auf, allen voran: Willst du überhaupt hier weg? Denn es ist natürlich ein Drama, wenn du nicht abgeholt wirst. Zum Beispiel, wenn du vier bist und die frühkindliche Pädagogin unauffällig zur Uhr hin schielt, weil es schon 17.30 Uhr ist und deine Mama sich nirgends blicken lässt, und übrigens kriegen es auch kleine Kinder mit, wenn du unauffällig auf die Uhr zu schielen versuchst. Nicht alles im Leben wartet aber aufs Abgeholtwerden wie ein Amazonpaket im 24-Stunden-SB-Bereich.
Wie ist das passiert? In den Nullerjahren (aus heutiger Sicht eine Zeit der Unschuld, aus damaliger eher nicht) wurde gern gefordert, den Leser „dort abzuholen, wo er ist“. Das war natürlich schon ein Käse, denn wenn ausgemacht ist, dass du deinen Haberer vor der Tenne abholst, weil du eine Zweisitzer-Vespa hast und seine Puch einen neuen Auspuff braucht, dann wirst du nicht stundenlang im Gasthof zur Post sitzen und warten, wann er endlich daherkommt. Klar holt man jemanden dort ab, „wo er ist“. Sonst zählt es nicht als „abholen“, sondern höchstens als „verpeilt herumhocken“.
Als wäre das nicht doof genug gewesen, ist abholen jetzt aber echt das Größte. The bee’s knees, wie die Amerikaner sagen. Es heißt nicht mehr das gefällt mir, sondern das holt mich ab. Nicht das spricht mich an, sondern das holt mich ab. Nicht das finde ich gelungen, sondern – ihr wisst schon. Man ist nicht einmal mehr hin und weg, sondern das hat mich total abgeholt. Nur wohin? Ins Land der Begeisterung? Und wenn es dich abgeholt hat, warum bist du immer noch da?
Man könnte sagen, euer Kolumnator hat ein Thema mit dem Wort abholen. Man stößt sich nämlich auch nicht mehr an einem Sachverhalt, etwas bedarf nicht der Klärung oder Optimierung, es gibt nichts mehr, worüber wir reden müssten – nein: wir haben ein Thema. Ein Thema zu haben ist das negative Gegenstück zum abholen. Ein Thema ist nicht etwa interessant oder neu. Wenn wir ein Thema haben, ist das immer schon schlecht. Hätten wir keines, könnten wir stattdessen Candycrush spielen oder uns darüber amüsieren, dass die ÖVP genau dann gehackt worden ist, wenn Unterlagen auftauchen, die ein Fehlverhalten belegen. Die sind dann nicht von der ÖVP, die wurden gefälscht. Statt uns daran zu freuen, haben wir ein Thema, also eine lästige Aufgabe. Erst wenn wir uns um all diese Themen, Themata oder, wie die Leute, die ein Thema haben, gern sagen: Themas, erfolgreich gekümmert haben, dann erreichen wir endlich den Zustand, von dem alle träumen: Wir wurden nicht etwa abgeholt. Nein: Wir fühlen uns abgeholt. Denn das Abgeholtwerden ist etwas derart Euphorisierendes, dass wir danach vor lauter Glück nicht einmal sicher sagen können, ob es uns widerfahren ist. Schönes Wochenende!

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