Freitag, 13. März 2020

Betroffenheit

Aktuell, meine Lieben, soll man ja als braves Lesehäschen in seiner Häschenkuhle bleiben, zwecks Vermeidung sozialer Kontakte mit anderen Häschen, die womöglich fiese Viren spazierentragen.
Trotzdem gilt weiterhin, dass Reisen bildet, weil man dabei zum Beispiel versäumte Radiosendungen nachhören kann. Daraus erfährt man nicht nur Interessantes über High-End-Speisekarten oder moderne Sklaverei, sondern auch, wie man sich auszudrücken hat, auf dass sich niemand auf den Schlips getreten fühle. Anscheinend sagt man jetzt nicht mehr „arm“, sondern „armutsbetroffen“.  Man kann nur darüber spekulieren, warum. Sollen jene vor saurem Aufstoßen bewahrt bleiben, die zwar arm sind, sich aber davon nicht betroffen sehen? Oder sehen wir hier gelebte Säkularisierung, indem ein armutsbetroffener Mensch wie du und ich nicht mit jenen Ordensleuten in einen Topf geworfen sein will, die infolge ihrer Regel zur Armut verpflichtet sind? Euer Ergebener weiß es nicht, ist aber nicht überzeugt, ob das eine gute Idee ist. Schließlich ist ein Adjektiv ein Adjektiv, da sollte der kompetenten Sprachnutzerin eigentlich klar sein, dass jemand, dem eine wenig erstrebenswerte Eigenschaft zugefallen ist, darob keine Luftsprünge überschäumender Freude vollführen wird. Auch fragt es sich, warum diese Betroffenheit einstweilen der Armut vorbehalten bleibt? Warum ist bis dato noch keiner krankheitsbetroffen, arbeitslosigkeitsbetroffen, hässlichkeits- oder dummheitsbetroffen? Gerade in letzterem Fall eine schwer einzusehende Einschränkung, wird doch die Ungleichbehandlung von materiell und geistig Armen den betreffenden Betroffenen kaum begreiflich zu machen sein!
Doch damit nicht genug. Wenn man armutsbetroffen sein kann, kann man dann auch reichtumsbetroffen sein? Schließlich macht irdischer Tand bekanntlich nicht glücklich. Womöglich spürt man die anderen Sorgen im Gegenteil nur umso bitterer, wenn es einem materiell an nichts mangelt. Wahrscheinlich sogar! Trotzdem dürfen die bedauernswerten Reichen ihre Betroffenheit nicht so selbstbewusst herumtragen wie die eben nicht nur Armen, sondern Armutsbetroffenen, die jedenfalls eine sofortige Buchstabenbereicherung um gut 200 Prozent verzeichnen können.
Die Frage ist natürlich, ob sie sonst noch etwas davon haben. Bessert es etwas, wenn man „armutsbetroffen“ ist statt arm? Ich kann mir zwar vorstellen, dass es Leute gibt, die selbstbewusst arm sein wollen, ohne davon betroffen zu werden. Aber umgekehrt? Fragen über Fragen, und da haben wir noch gar nicht vom Coronavirus geredet! Wie angenehm.
Schönes isoliertes Wochenende!


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