Freitag, 6. März 2020

Gelesen zu werden

Die Sache mit der Subjektsgleichheit ist, o flauschige Lesehäschen, so eine. Nämlich so eine Sache, wie nicht nur jene Subjekte bestätigen werden, die des soundsovielten Buwog-Verhandlungstags harren, auf dass festgestellt werde, ob sie identisch sind mit Subjekten, die sich als Amtsträger bereichert haben, damit zumindest für sie persönlich etwas mehr herausschaue als ein Nulldefizit. Erinnert sich noch jemand an den Defizitticker auf der Kärntnerstraße? Heißa, was erhob sich da für ein Jubel, als jener (freilich infolge von Einmaleffekten und nur ganz kurz) auf Null sprang! Oder täuscht euren Ergebenen da die Erinnerung?
Wie auch immer: Grammatisch ist das mit der Subjektsgleichheit ebenfalls so eine Sache, wie der aufmerksamen Standard-Leserin nicht entgangen ist, und zwar angesichts dieses Satzes:
Sie werfen Shincheonji vor, bewusst getäuscht worden zu sein.
Auf den ersten Blick geschieht hier nichts Besonderes: Zwei Frauen sind einer Sekte aufgesessen und finden das schlimm. Die zwei Frauen sind nämlich die fraglichen sie, die etwas vorwerfen. Adressat des Vorwurfs ist die südkoreanische Sekte Shincheonji, die durch fleißige Anbetung des Coronavirus den Weltuntergang herbeiführen will, aber nur für die andern. Ist aber gut möglich, dass ich da etwas falsch verstanden habe.
Trotzdem schaut man zweimal hin: Wer  ist hier getäuscht worden?
Im Satz geschieht etwas Alltägliches, das grammatisch trotzdem ganz schön komplex ist. Es hat nämlich das Deutsche von Haus aus nur einen Infintiv, a.ka. Nennform, nämlich, um im Beispiel zu bleiben, täuschen. Mit dem Infinitiv lassen sich Infinitivgruppen bilden, etwa so: Er liebt es, die Beratung mit Ideen zu verwöhnen. Nun kann es sein, dass man in einer Infinitivgruppe ausdrücken will, dass jemandem etwas widerfährt. Das geht, obgleich das Deutsche (anders als etwa Latein) keinen passiven Infinitiv als Wortform kennt. Man kann ihn aber behelfsweise erzeugen, so wie man einem wackelnden Tisch einen Bierdeckel unterschiebt, in diesem Fall das Hilfsverb werden: Die Beratung schätzt es nicht, am Schmäh gehalten zu werden. Hier verhält sich gehalten zu werden wie ein passiver Infinitiv. Noch mehr: Das Ganze funktioniert auch in der Vergangenheit, und damit sind wir bei der Sekte, die Leute bewusst getäuscht haben soll: getäuscht worden zu sein entspricht einem passiven Infinitiv Perfekt (der aktive wäre getäuscht zu haben).
Und hurra!, nun wissen wir endlich, ob der Satz korrekt ist: Im Deutschen gilt nämlich die nützliche Regel, dass Infinitivgruppen dasselbe Subjekt haben wie der Hauptsatz, von dem sie abhängen. Da die Frauen einerseits vorwerfen, andererseits getäuscht wurden, haben beide Satzteile dasselbe Subjekt. Die Unsicherheit rührt daher, dass der geübte Leser nach „vorwerfen“ eine Handlung erwartet – nämlich das Verwerfliche, was man dem anderen vorwirft. Hier aber ist es ein Erleiden, das den Frauen widerfahren ist. Der Gedanke ist gegen den Strich gebürstet, aber grammatisch korrekt ausgedrückt.
Fast korrekt ist das Feedback der Woche. In dem Satz Wir legen 30 % mehr Eier zuvor, so stellte man kundenseitig mit Recht fest, fehlte etwas. Allerdings nicht ganz soviel, wie dann nachgeliefert wurde: Wir legen 30 % mehr Eier als wie zuvor.
Schönes Wochenende!

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