Freitag, 8. Juni 2018

Abflug

Häschen, es ist Zeit, dass wir uns wieder einmal besinnen, weshalb wir überhaupt hier sind. Genau, da war was mit Bildung! Heute lernen wir deshalb, warum unsere Gesellschaft den Flugverkehr braucht wie einen Bissen Brot. „Wie bitte?“, „hä?“ und sogar „spinnt er jetzt komplett?“ höre ich es aus euren schütteren Reihen murmeln. Denn gar manches von euch wollte nur mal eben per Düsenmaschine nach Barcelona hüpfen und hat stattdessen ungeplant in Frankfurt übernachtet (Oder, nicht Main).
Doch mit den Flugreisen ist es wie mit der Schulbildung: Nur dass sie manchmal mühsam sind, beweist noch nicht, dass nichts Gutes darin stecken kann. Beziehungsweise ist vielleicht gerade die Mühe das Gute! Es ist nämlich längst kein Geheimnis mehr, dass sich in Führungsebenen mehr Psychopathinnen und Psychopathen finden als darunter. Nicht, dass jeder Chef ein Irrer wäre. Aber die Wahrscheinlichkeit ist doch drei- oder viermal so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Sagt die Wissenschaft.
Schlimm, aber nicht hoffnungslos. Denn wir (oder unsere geheimen Oberen) haben offenbar erkannt, dass es einerseits gefährlich wäre, Verrückten zuviel Freiheit zu lassen, während es andererseits nicht zu verhindern ist, dass sie eher in Machtpositionen aufrücken als andere.
Deshalb haben wir den Flugverkehr erfunden. Denn mit steigender Wichtigkeit eines Funktionsträgers geht verstärkte Reisetätigkeit einher: Je wichtiger einer ist, desto öfter muss er nach Frankfurt, Des Moines oder Guangzhou, um potenziell katastrophale Entscheidungen zu treffen.
Das Gute ist nun, dass Entscheidungsträger gezwungen sind, viel Zeit in Flughäfen zu verbringen. Und was geschieht dort mit ihnen? Sie warten stundenlang auf Dinge, die in fünf Minuten eintreten sollen (aber jetzt wirklich!), sie entledigen sich auf Kommando Teilen ihrer Kleidung und ziehen sie ordentlich wieder an. Sie hetzen, nach stundenlangem Warten, plötzlich und auf Weisung eines Uniformträgers irgendwohin, um dort wieder zu warten. Sie essen hastig irgendwas. Sie kommen doch nicht dorthin, wohin sie ursprünglich kommen sollten, und schlafen an Orten, die sie sich nicht ausgesucht haben. Sie warten erneut lange, bis plötzlich ganz kurz Stress aufkommt.
Damit sind wir bei dem, was Historiker Fundamental- oder auch Sozialdisziplinierung nennen: Die Staaten der frühen Neuzeit trachteten sich ihrer Untertanen in einem Ausmaß zu bemächtigen, das bis dahin nicht vorstellbar war (und heute banal scheint). Zu diesem Zweck mussten die Betroffenen erst gefügig gemacht werden, unter anderem im Rahmen einer militärischen Ausbildung: Adlige Offiziere ordneten ihre Körper den Regeln des Reitens, Fechtens und Tanzens unter. Die Gemeinen mussten exerzieren, und zwar länger, als angenehm ist. Dieses Prinzip gilt auch in heutigen Armeen. Der frisch rekrutierte Soldat wird einer sogenannten Grundausbildung unterwunden, deren Hauptzweck darin besteht, ihn einerseits ständig unter Stress zu setzen und ihm andererseits jede Entscheidung abzunehmen, denn fürs Befehleerteilen sind die andern zuständig. Nach einigen Wochen oder Monaten erhält man brauchbares Material, aus dem sich ein kampffähiges Subjekt formen lässt, das im Gefecht nicht auf eigene Faust irgendetwas anstellt.
Was dem Rekruten das boot camp, ist dem Manager der Flughafen. Hier lernt er, dass er in Wahrheit nichts zu reden hat und dass Warten gescheiter ist. Er trifft deshalb am besten erst einmal gar keine Entscheidung, was immer noch besser ist als eine katastrophale. Gefährlich wird es erst, wenn ein Dummbär Zugang zum Firmenjet bekommt. Er steigt ausgeruht und voller Tatendurst in Astana aus dem Flieger, und dann gnade uns Gott. Schönes Wochenende!

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