Freitag, 30. November 2018

Finstere Aussichten

Es naht nicht nur die stillste Zeit im Jahr, o teure Häschen, sondern auch die dunkelste, insofern der Sonnentag dieser Tage sehr kurz ist. Umso länger ist es stockdunkel oder stockfinster. Doch warum? Es leuchtet ja ein, dass etwas himmelblau, rabenschwarz, taghell oder sogar kuhdunkel ist, wie man im Bregenzerwald sagt, weil man nämlich im Innern einer Kuh die Hand nicht vor Augen sieht, was jeder bestätigen kann, der schon einmal einen ländlichen Tierarzt bei der Arbeit zu beobachten Gelegenheit hatte.
Die Logik von „stockdunkel“ hingegen erschließt sich weder auf den ersten noch auf den dritten Blick. Wenn ein Stock schon eine Farbe hat, dann allenfalls weiß. Und dass es „stockdunkel“ heißen sollte, weil Blinde sich mit einem Stock durchs Dunkel tasten, ist schon deshalb Blödsinn, weil stark Sehbehinderte (nach Auskunft jener, die ich kenne) oft nicht im Dunkeln tappen, sondern in einer diffusen Helle.
In einem solchen Fall akuter Wissbegier könnte man natürlich in die nächstgelegene gutsortierte Bibliothek gehen und sich dort im Regal mit den etymologischen Wörterbüchern Rats erholen. Oder man bleibt einfach sitzen (ist schon stockdunkel draußen!) und googlet. Das Internet, so erfährt man alsbald, liefert zwei Deutungsmöglichkeiten. Nämlich könnte „stockdunkel“ daher kommen, dass finstere Gesellen, wenn man ihrer denn habhaft wurde, eingekerkerter zu werden pflegten. In früheren Zeiten wurden sie nicht nur in eine Zelle gesperrt, sondern – sicher ist sicher, hoffentlich liest Herr Kickl nicht mit – in den sogenannten Stock geschlossen, eine Holzfessel, die ein Entrinnen unmöglich machte. Und weil kein Wächter Zeit oder Lust hatte, dem Gefangenen die Zeitung umzublättern, ließ man ihn aus Sparsamkeitsgründen ohne Licht schmachten. Um ihn war es dunkel. Wie dunkel? Stockdunkel.
Die andere Erklärung lautet, dass vor stockdunkel Wörter wie stocksteif oder stockdumm kamen: Der so Bezeichnete galt als so unbeweglich oder intelligent wie ein Stück Holz. Mit der Zeit, so diese Theorie, verselbständigte sich die Vorsilbe stock- und wurde zu einem Ausdruck maximaler Verstärkung, sodass man nun auch stockdunkel oder stocknüchtern sagen konnte, ohne dass die andern stockverblüfft dreinschauten.
Ich weiß nicht, wie es euch geht, meine Lieben, aber ich finde die zweite Version entschieden charmanter.
Was meint das Deutsche Wörterbuch dazu? Es schlägt sich ganz klar auf die andere Seite, stockdunkel, davon sind die Grimms überzeugt, kommt vom Stock, in dem der Gefangene festgeschlossen liegt. Merkwürdig ist aber, dass das DWB eine lange Latte von Wörtern kennt, die sich mit stock- verstärken lassen, und da sind nicht nur solche wie lahm, krank oder stumm dabei, die sich mit der Fesselerklärung noch fassen ließen, sondern auch närrisch, heidnisch, gläubig (entweder – oder, möchte man meinen!), reich und sogar gescheit. Bei all diesen Wörtern bekommen wir keine Etymologie mitgeliefert. Es scheint also, als seien beide Etymologien fast richtig: Zuerst kam, wenn man dem DWB glauben darf, stockdunkel, und dann wurde stock- zum selbstständigen Verstärker. Man kann ihn verwenden, muss aber nicht. Wenn wir zum Beispiel lesen, dass viele Pflichtschullehrer in Wien studiert und eine Weile auch gearbeitet haben, später aber doch wieder wegziehen, und dass ein wichtiger Personalvertreter vorschlägt, den Wiener Pflichtschullehrern das Parkpickerl zu schenken, damit sie lieber dableiben, dann kann man auch einfach finden, dass es hier zappenduster ist. Was eine Zappe ist, können wir ja ein andermal nachschauen. Schönes Wochenende!


Freitag, 23. November 2018

Einteilungssache

Der Dativ, hat man früher gesagt, sei dem Genitiv sein Tod. Mittlerweile wissen wir, dass man auch den Akkusativ nicht unterschätzen sollte, von wegen den korrekten Anschluss. Trotzdem hört man im Hintergrund ab und zu noch den Genitiv röcheln, der übrigens auch Genetiv heißen darf, das ist kein Fehler, sondern eine kleine Kaprize! Dabei liefert er ein herbstlich melancholisches Beispiel dafür, wie die Sprache sich entwickelt und alte Regeln hinter sich lässt, und zwar in seiner Inkarnation als Genitivus partitivus. Wer kein Latein hatte, lernt jetzt was Neues: Der Genitivus partitivus liefert in der Regel eine Mengenangabe und ist nichts anderes als die lateinische Version der gängigen deutschen Formulierung „von“. Du gönnst (Achtung, Eselsbrücke, Gönnitivus!) dir ein Stück vom Kuchen, ein paar Räder von der Wurst, einen Bissen vom Schnitzel.
Denn pars ist lateinisch der Teil, und der Genitivus partititivus sagt uns, wovon der Teil stammt. In der wörtlichen Übersetzung kriegst du (weil Genitiv) eben nicht ein Stück vom Kuchen, sondern ein Stück des Kuchens, einen Festmeter Holzes, eine Ladung Korns. Vielleicht besichtigst du auch einen meiner Paläste. Im Italienischen funktioniert das ebenfalls einwandfrei: ho bevuto dell‘ acqua, ich habe (einen Schluck) des Wassers getrunken, und ich habe mir sagen lassen, dass die Franzosen das ähnlich handhaben, aber da will sich euer Kolumnator jetzt lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, denn heuer ist es 300 Jahre her, dass der 30-jährige Krieg begonnen hat, und womit? Genau, mit dem Prager Fenstersturz, da heißt es also vorsichtig sein. Wo waren wir? Beim Partitivus.
Der Partitivus wird nämlich, wie so viele von uns, allmählich alt. Wie so viele von uns verspürt er daher nicht mehr den Drang, bei jedem Hundsderschlagn dabei zu sein, sondern überlegt sich vorher, ob es das wirklich wert ist. Deshalb liest er lieber Zeitung, wenn du „einen Humpen Bier“ bestellst, wie es unter Schluckspechten Sitte ist. Geht es hingegen darum, eine deiner Töchter kennenzulernen, dann steht er natürlich parat. Damit sind wir jetzt beim melancholischen Teil: Geht es um nicht Zählbares, dann bleibt der Partititivus gern auf der faulen Haut liegen. Ein Glas Wasser, eine Fuhre Mist – mit so etwas kannst du ihn nicht locken, und sogar ein Haufen Geld lässt ihn kalt, während er sich einst verpflichtet gesehen hätte, auch in solchen Angelegenheiten herbeizueilen. Zählbare Begehrenswertigkeiten wie Diamanten, Whiskyflaschen oder die obgedachten Töchter locken ihn aber umstandslos aus seiner Lethargie.
Die Frage ist aber, in welchem Fall Wasser, Holz und Geld dann überhaupt stehen? Kommt drauf an. Steht dir der Sinn nach einem Becher warmem Punsch, dann im Dativ, weil einem der Sinn eben nur nach diesem stehen kann. Greifst du dir hingegen einen großen Sack Geld, weil die Gelegenheit gerade günstig ist, da muss man sich nicht lange fragen, was die eigene Leistung war, dann natürlich im Akkusativ. Kurz: Der gute alte Partitivus macht Platz für keinen bestimmten Fall. Sondern der gemeinte Stoff steht im selben Fall wie das Behältnis, der Teil oder was immer. Damit verlieren wir die Zusatzinformation, dass alles, was wir nehmen, verzehren, gebrauchen und so weiter nur ein Teil der Gesamtmenge ist (hoffentlich!). Und gewinnen dafür ein bisschen sprachliche Bequemlichkeit. Man kann natürlich darauf bestehen, dass die innere Logik nicht mehr so ganz aufgeht. Aber spätestens, wenn du im Kaffeehaus „ein Glas Wassers“ bestellst, merkst du, wie wichtig die Logik nicht ist. Zum Wohle!

Freitag, 16. November 2018

Strange Sprache

Man sei so alt, wie man sich fühlt, wird gerne behauptet, ohne dass man weiß, wieviele Lesehäschenjahre ein Menschenjährchen zählt. Ehe wir uns darin verlieren, warum es angemessen ist, sei hier im Konjunktiv zu setzen, fühlt hingegen im Indikativ, räumen wir lieber gleich mit der ganzen fehlgeleiteten Selbsttäuschung auf. Man ist nicht so alt, wie man sich fühlt, sondern so alt, wie man sich ständig fragt, warum die Leute das auf Englisch sagen oder schreiben. Es ist nämlich like this: Dein Balg, das einen kleinen grünen Gecko mit großen Augen vor zwei Jahren süß fand, findet ihn heute voll cute. Und was einst gruselig war, ist heute creepy. Damit ist man als unverbesserlicher Kraus-Leser vor ein Dilemma gestellt. Einerseits hatte Kraus natürlich recht damit, dass ein Satz, der nur aus Fremdwörtern besteht, besser deutsch sein kann, als wenn man ihn verdeutscht, sodass man seine Polemik gegen die Sprachreiniger nur unterschreiben kann.
Andererseits muss man nicht Philipp von Zesen nacheifern, der einst die Nase durch den Gesichtserker und das Fenster durch den Tageleuchter ersetzen wollte, um sich zu fragen, ob es die Ausdruckskraft steigert, wenn man aufgefordert wird, etwas je sooner desto besser zu erledigen. (Bildungsauftrag: Philipp von Zesen war ein deutscher Dichter des 17. Jahrhunderts und einer der ersten deutschsprachigen Berufsschriftsteller. Aus seinem umfangreichen Werk haben Spätere, die im Barock vor allem das Skurrile suchten, gern seine Wortschöpfungen herausgepickt, mit denen er dem Deutschen zu einem genuin deutschen Wortschatz zu verhelfen hoffte.)
Denn die Durchdringung der Alltagssprache mit englischen Begriffen ist nicht auf Sprecherinnen unter 17 beschränkt, noch auch auf Fachsprache und Jargon. Dass eine Institution zur würdevollen Unterbringung von Senioren eine Heimseite hat, du und ich aber höchstens eine Homepage, darüber müssen wir nicht diskutieren. Dass von mir so mancher ein E-Mail bekommt, aber niemals eine Strompost, versteht sich ebenfalls von selbst. Auch das device erspart die umständliche Formel vom mobilen Endgerät.
Wenn wir aber woanders hinfahren, ist das dann eine Reise oder eine journey? Bis vor Kurzem schien die Antwort eindeutig, aber heute – who knows?
Irritierend ist daran für den gesetzten language user zweierlei: Einesteils die immer wieder gestellte Frage, ob man sich als hoffnungslos gestrig outet, wenn man weiterhin davon überzeugt bleibt, dass man an einem Schreibtisch sitze und nicht an einem desk.
Noch schlimmer ist aber die zweifellos ketzerische Frage, was das Ganze soll? Ist für Präzision, Konzinnität oder Ausdruckskraft irgendetwas zu gewinnen, wenn der Urlaubende auf journeys geht?
Aber halt! Wir sind ja weltoffene Kommunikationshäschen und wollen uns nicht in fehlgeleitetem Purismus verlieren. Die Frage kann nicht sein, ob englische Wörter besser sind als deutsche (fix, Oida! womit wir ein mögliches „Jugendwort des Jahres 2018“ abgehakt haben), sondern vielmehr: warum nur englische Wörter? Ab sofort ist etwas nicht mehr „so ding“, sondern je ne sais quoi, nicht mehr „köstlich“, sondern oishii. Das Auto fährt nicht mehr, es kjört. Wir gehen nicht mehr ins „Zimmer“, sondern ins chumba. Wer seine Sprache optimieren will, muss einfach nur die Rosinen aus dem linguistischen Kuchen picken. Erst wenn wir so sprechen wie der unvergessliche Salvatore im Namen der Rose, der den Kaasschmarrn bereitet, können wir sicher sein, dass wir kommunikativ unser Bestes geben: Nimm einen Kaas, nich zu alt, nich zu weich, mach klein Stückl in quadri o sicut te piace. Dann stell auf Feuer ein Topf mit un poco de burro o vero de structo fresco à rechauffer sobre la brasia. Et dentro vamos, rein mit dem Kaas, und wenn dir scheint tenerum, un peu zucharum et canella supra positurum. Fertisch. E subito in tabula, parce que ça se mange caldo caldo!
Mahlzeit.

Freitag, 9. November 2018

Kopfrechnen

Mit Statistiken ist es immer so eine Sache, deshalb findet man auch so schwer einen guten Arzt: Medizin ist halt in erster Linie Statistik und die Fähigkeit, sie zu deuten. Zur Ehre der Heilehäschen sei aber festgehalten, dass man kein Arzt sein muss, um Schwierigkeiten mit Prozentrechnung zu haben.
So war von einer Studie zu lesen, die auf der Frankfurter Buchmesse Aufsehen erregt habe: Demnach bespricht die deutsche Buchkritik in erster Linie Bücher von Männern, obwohl Frauen mehr Bücher kaufen und lesen. Die Studie mische mit konkreten Zahlen die Buchmesse auf: Über 60 % der besprochenen belletristischen Werke stammen von Männern, bei Sachbüchern 70 %, bei Krimi, Fantasy und Comic sogar 85 %. Und so weiter. Alles sehr sacklastig, um es volkstümlich zu formulieren! Blöd an der Sache ist nur: Die StudienautorInnen haben darauf verzichtet, die konkreteste aller Zahlen zu erheben. Nämlich das Verhältnis von publizierten Autoren zu Autorinnen. Es kann schon sein, dass die Kritik im Zweifel eher zum Buch vom Mann greift. Vielleicht liegt es aber daran, dass kein Buch von einer Frau zur Auswahl steht. Wir wissen es nicht. Vielleicht werden wir es eines Tages erfahren. Aber jedenfalls nicht aus der Studie, die sich genau dies zum Thema gewählt hat.
Meine aktuelle Lieblingsstudie stammt aber von einer Assistentin an der Wirtschaftsuniversität, über deren Namen ich den Mantel des Schweigens breite. Nur so viel: Nichts, was ich über die WU bisher zu wissen glaubte, musste ich revidieren, seit ich von ihrer Studie gelesen habe.
Es ist nämlich so: Es gibt an der WU Aufnahmetests für Bewerberinnen um Studienplätze, und es gibt auch welche an der Medizinischen Universität. Untersucht man genauer, wer danach einen Studienplatz bekommt, dann zeigt sich: Künftige Ärzte stammen heutzutage mit höherer Wahrscheinlichkeit aus Akademikerfamilien als vor Einführung der Zugangsbeschränkung. Die Aufnahmetests wirken also der sozialen Durchmischung entgegen. Solche Effekte beobachtet man auch an der VetMed oder bei den Zahnärzten.
Nur an der WU haben die Prüfungen überhaupt keinen Einfluss auf die soziale Durchmischung der Studentinnenschaft. Komisch, oder? Die Studienautorin hat aber eine „Vermutung“: Es könnte eventuell – nix Genaues weiß man nicht – daran liegen, dass es an der MedUni weniger Plätze als Bewerber gibt, an der WU hingegen mehr. Ich finde es sehr erfreulich, dass sie dies nur als Vermutung aufstellt. Man darf da nichts präjudizieren. Wenn man in der Wissenschaft nicht exakt vorgeht, wo denn dann? Es werden zweifellos noch eine Reihe genauerer Untersuchungen nötig sein, ehe sich robust beurteilen lässt, ob eine Zugangsbeschränkung, die den Zugang nicht beschränkt, Einfluss auf die soziale Durchmischung der Kandidatinnen hat. Schönes Wochenende!