Freitag, 27. März 2020

Hygiene

Sozial distanziert und zuhause an der Kippgrenze: So leben wir dieser Tage! Denn es zeigt sich nur allzubald: Wer immer da ist, gilt bald nichts mehr, oder Schlimmeres. Der Film der Stunde ist deshalb nicht Contagion, World War Z oder I am Legend, sondern das Loriot’sche Meisterwerk Pappa ante Portas, worin Renate feststellt, dass das Leben nicht unbedingt besser wird, wenn der geliebte Andere endlich mehr zuhause ist, was in dem unvergesslichen Satz gipfelt: Ich habe ja nicht gewusst, wie es ist, wenn er Zeit hat!
Ja, ja, man soll vorsichtig mit den eigenen Wünschen sein, sagen die Engländer, und recht haben sie.
Wer klug ist, nutzt deshalb die aktuelle Ruhe, um sich endlich einmal den Fragen zu widmen, deren Klärung man im einst normalen Alltag immer vor sich hergeschoben hat. Und da reden wir noch nicht davon, woher wir kommen und wohin wir gehen (Antwort: wahrscheinlich in Kurzarbeit, mit Glück), sondern zum Beispiel davon, wie die Zahnputzanleitung damals eigentlich zu verstehen war.
Denn euer Ergebener, o meine teuren und nun allzu fernen Lesehäschen, ist zwar noch nicht in die Risikogruppe hinein-, jedoch schon länger aus der Jungspundphase herausgewachsen. Ich weiß daher nicht, was man Kindern so um 1990 zum Thema Mundhygiene eingeschärft hat. In den vorangehenden Jahrzehnten galt aber eine scheinbar einfache Regel, nämlich: von Rot nach Weiß, immer im Kreis, wobei Rot natürlich das Zahnfleisch meinte und Weiß – in den meisten Fällen zweckoptimistisch – den Zahn.
So weit, so schlicht. Aber wie soll das funktionieren? Nämlich angenommen, dass man ein herkömmliches Gebiss hat und nicht eines, das aussieht, als ob sich M.C. Escher auf die Kieferorthopädie geworfen hätte. Von Rot nach Weiß ist ja kein Problem. Aber wenn man kreisförmig weiterputzt, landet man unweigerlich wieder bei Rot und hat damit die so einfache Regel verletzt. Oder man lüpft auf dem Rückweg, wo man von Weiß nach Rot käme – aber wozu dann der Kreis in der Anweisung?
Für den geübten Verschwörungstheoretiker – und sind wir das in Zeiten von Social Distancing nicht alle? Denn je ferner dein Nebenmensch, desto näher der Verdacht, dass er etwas im Schilde führt! – für den geübten Verschwörungstheoretiker also liegt auf der Hand, dass es in Wahrheit um etwas anderes als das Zähneputzen ging, und da brauchen wir noch gar nicht Dr. Strangelove mit seinen trinkwasserflourierenden Kommunisten zu bemühen, die sich in den 70ern zumindestens in Österreich, diesem Tummelplatz der Kalten Krieger, ans Tageslicht getrauten, weshalb wir Volksschüler damals regelmäßig auf Staatskosten Fluortabletten verabreicht bekamen, deren leuchtmarkerartiger Farbton nicht einmal in den LSD-bunten 70ern irgendeinem anderen Lebens- oder Nahrungsergänzungsmittel glich.
Aber wie gesagt, so weit müssen wir nicht gehen. Tatsächlich, und ich bin froh, dass wir das endlich klären können, ging es bei der rätselhaften Putzanleitung um die Politik, nämlich daran, die formbare Jugend rechtzeitig an jene Stabilität zu gewöhnen, mit welcher der Proporz das Land segnete: Von Rot nach Schwarz, immer im Kreis, und wenn irgendwo ein Sozi ein Amt bekam, wurde im selben Bürstenstrich ein Bauernbündler auf die entsprechende Komplementärposition geschoben und umgekehrt. Im direkten Vergleich zu Vergabepraktiken der letzten Jahre kein übles System, oder? Nur schade, dass eine ganze Generation kaum abzuschätzende Summen in die Kassen der niedergelassenen Zahnmediziner gespült hat, weil sie von der ebenso schlichten wie unerfüllbaren Anweisung dermaßen verunsichert war, dass sie das Zähneputzen lieber gleich bleiben hat lassen, von neumodischen Kinkerlitzchen wie Zahnseide gar nicht zu reden. Aber ein geordnetes Staatswesen muss einem halt ein paar Jacketkronen wert sein. Isoliertes Wochenende!


Freitag, 20. März 2020

Vereinzelt

Man gewöhnt sich ja sehr schnell um, o meine sozial distanzierten, aber deshalb nicht minder sympathischen und flauschigen Lesehäschen! Was letzte Woche noch selbstverständlich schien, ist heute schon fragwürdig, ein Anstoß für erhobene Augenbrauen oder gar Quell des Entsetzens. Als Fenster in die Vergangenheit dient uns lineares Fernsehen, das wir ja solidarisch praktizieren sollen. Wie gut es uns immer noch geht, merken wir daran, dass es genügt, linear fernzusehen, um sein Scherflein zum allgemeinen Besserbefinden beizutragen. Möge es uns nie schlechter gehen!
Grammatisch haben wir es ja derzeit als Einzelhäschen mit einem sogenannten distributiven Singular zu tun, beziehungsweise vielen davon: Wir Häschen sind in unsere jeweiligen Kuhlen verteilt – also distribuiert – und bleiben dabei möglichst vereinzelt. Dabei passen wir auf, ob es uns eh nicht im Hals kratzt, und da war schon der distributive Singular: Wir haben nämlich viele Hälse, aber wenn wir davon sprechen, kratzt es uns im Hals, nicht in den Hälsen. Denn der Sprache ist es wichtiger, darzutun, dass jedes Häschen nur einen Hals hat, als dass viele Häschen viele Hälse haben, damit man nicht den Eindruck gewinne, ein Häschen habe mehrere Hälse.
Natürlich ist dieses Phänomen nicht auf uns Schreibe- und Lesehäschen beschränkt. Denn wer linear fernsieht, wird mit Shows bedient, denen allen eine Gemeinsamkeit eignet: Es ist schon eine Weile her, dass die Dinger produziert worden sind. Es ist so unfassbar lange her, dass man sich heute nicht genug wundern kann, wie man damals dicht nebeneinander auf Sofas saß, einander um die gegenseitigen Hälse fiel (vielmehr um den Hals, schon wieder ein distributiver Singular) oder gar ungeschützte Bussis tauschte!
Ja, so war das damals, ehe das Coronavirus über uns kam, das, wie alles in der Welt, der liebe Gott gemacht hat. Beim Machen hat er nicht verabsäumt, auch dem Virus ein bisschen was von seiner göttlichen Eigenheit mitzugeben. Denn so steht geschrieben: Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen. Lassen wir uns das eine Warnung sein!
Erfreulicher Nebeneffekt dieser raschen Umgewöhnung ist es natürlich, dass jegliche Show sich heute bestens für ein Trinkspiel eignet, und auch, wenn Experten versichern, dass Alkohol nicht zur Coronaprophylaxe geeignet ist, soll keiner sagen, wir hätten nicht alles probiert. Man kippe einen, sobald in einer Show etwas geschieht, was derzeit nicht ratsam ist. Oder sobald ein distributiver Singular zu beobachten ist. So sehen wir etwa bei GNTM Kandidatinnen, die eine bisweilen schwer erträgliche Vielheit von mädchenhafter Unduldsamkeit darstellen. Auch hier darf ein zugehöriges Objekt, das zu allen vielen Subjekten gehört, im Plural stehen: Den GNTM-Bitches klopfte bei der wöchentlichen Beurteilung das Herz bis zum Hals. Nun hat zwar jede Kandidatin ein Herz (nur bei Lijana sind sich die Beobachter diesbezüglich nicht einig, und Heidi selber kommt hier nicht in Betracht) sowie einen Hals, aber wenn jeder von ihnen jenes bis zu diesem klopft, darf es im resultierenden Satz trotzdem ein singuläres Herz mit einem singulären Hals bleiben. Prost, und distanziertes Wochenende!

Freitag, 13. März 2020

Betroffenheit

Aktuell, meine Lieben, soll man ja als braves Lesehäschen in seiner Häschenkuhle bleiben, zwecks Vermeidung sozialer Kontakte mit anderen Häschen, die womöglich fiese Viren spazierentragen.
Trotzdem gilt weiterhin, dass Reisen bildet, weil man dabei zum Beispiel versäumte Radiosendungen nachhören kann. Daraus erfährt man nicht nur Interessantes über High-End-Speisekarten oder moderne Sklaverei, sondern auch, wie man sich auszudrücken hat, auf dass sich niemand auf den Schlips getreten fühle. Anscheinend sagt man jetzt nicht mehr „arm“, sondern „armutsbetroffen“.  Man kann nur darüber spekulieren, warum. Sollen jene vor saurem Aufstoßen bewahrt bleiben, die zwar arm sind, sich aber davon nicht betroffen sehen? Oder sehen wir hier gelebte Säkularisierung, indem ein armutsbetroffener Mensch wie du und ich nicht mit jenen Ordensleuten in einen Topf geworfen sein will, die infolge ihrer Regel zur Armut verpflichtet sind? Euer Ergebener weiß es nicht, ist aber nicht überzeugt, ob das eine gute Idee ist. Schließlich ist ein Adjektiv ein Adjektiv, da sollte der kompetenten Sprachnutzerin eigentlich klar sein, dass jemand, dem eine wenig erstrebenswerte Eigenschaft zugefallen ist, darob keine Luftsprünge überschäumender Freude vollführen wird. Auch fragt es sich, warum diese Betroffenheit einstweilen der Armut vorbehalten bleibt? Warum ist bis dato noch keiner krankheitsbetroffen, arbeitslosigkeitsbetroffen, hässlichkeits- oder dummheitsbetroffen? Gerade in letzterem Fall eine schwer einzusehende Einschränkung, wird doch die Ungleichbehandlung von materiell und geistig Armen den betreffenden Betroffenen kaum begreiflich zu machen sein!
Doch damit nicht genug. Wenn man armutsbetroffen sein kann, kann man dann auch reichtumsbetroffen sein? Schließlich macht irdischer Tand bekanntlich nicht glücklich. Womöglich spürt man die anderen Sorgen im Gegenteil nur umso bitterer, wenn es einem materiell an nichts mangelt. Wahrscheinlich sogar! Trotzdem dürfen die bedauernswerten Reichen ihre Betroffenheit nicht so selbstbewusst herumtragen wie die eben nicht nur Armen, sondern Armutsbetroffenen, die jedenfalls eine sofortige Buchstabenbereicherung um gut 200 Prozent verzeichnen können.
Die Frage ist natürlich, ob sie sonst noch etwas davon haben. Bessert es etwas, wenn man „armutsbetroffen“ ist statt arm? Ich kann mir zwar vorstellen, dass es Leute gibt, die selbstbewusst arm sein wollen, ohne davon betroffen zu werden. Aber umgekehrt? Fragen über Fragen, und da haben wir noch gar nicht vom Coronavirus geredet! Wie angenehm.
Schönes isoliertes Wochenende!


Freitag, 6. März 2020

Gelesen zu werden

Die Sache mit der Subjektsgleichheit ist, o flauschige Lesehäschen, so eine. Nämlich so eine Sache, wie nicht nur jene Subjekte bestätigen werden, die des soundsovielten Buwog-Verhandlungstags harren, auf dass festgestellt werde, ob sie identisch sind mit Subjekten, die sich als Amtsträger bereichert haben, damit zumindest für sie persönlich etwas mehr herausschaue als ein Nulldefizit. Erinnert sich noch jemand an den Defizitticker auf der Kärntnerstraße? Heißa, was erhob sich da für ein Jubel, als jener (freilich infolge von Einmaleffekten und nur ganz kurz) auf Null sprang! Oder täuscht euren Ergebenen da die Erinnerung?
Wie auch immer: Grammatisch ist das mit der Subjektsgleichheit ebenfalls so eine Sache, wie der aufmerksamen Standard-Leserin nicht entgangen ist, und zwar angesichts dieses Satzes:
Sie werfen Shincheonji vor, bewusst getäuscht worden zu sein.
Auf den ersten Blick geschieht hier nichts Besonderes: Zwei Frauen sind einer Sekte aufgesessen und finden das schlimm. Die zwei Frauen sind nämlich die fraglichen sie, die etwas vorwerfen. Adressat des Vorwurfs ist die südkoreanische Sekte Shincheonji, die durch fleißige Anbetung des Coronavirus den Weltuntergang herbeiführen will, aber nur für die andern. Ist aber gut möglich, dass ich da etwas falsch verstanden habe.
Trotzdem schaut man zweimal hin: Wer  ist hier getäuscht worden?
Im Satz geschieht etwas Alltägliches, das grammatisch trotzdem ganz schön komplex ist. Es hat nämlich das Deutsche von Haus aus nur einen Infintiv, a.ka. Nennform, nämlich, um im Beispiel zu bleiben, täuschen. Mit dem Infinitiv lassen sich Infinitivgruppen bilden, etwa so: Er liebt es, die Beratung mit Ideen zu verwöhnen. Nun kann es sein, dass man in einer Infinitivgruppe ausdrücken will, dass jemandem etwas widerfährt. Das geht, obgleich das Deutsche (anders als etwa Latein) keinen passiven Infinitiv als Wortform kennt. Man kann ihn aber behelfsweise erzeugen, so wie man einem wackelnden Tisch einen Bierdeckel unterschiebt, in diesem Fall das Hilfsverb werden: Die Beratung schätzt es nicht, am Schmäh gehalten zu werden. Hier verhält sich gehalten zu werden wie ein passiver Infinitiv. Noch mehr: Das Ganze funktioniert auch in der Vergangenheit, und damit sind wir bei der Sekte, die Leute bewusst getäuscht haben soll: getäuscht worden zu sein entspricht einem passiven Infinitiv Perfekt (der aktive wäre getäuscht zu haben).
Und hurra!, nun wissen wir endlich, ob der Satz korrekt ist: Im Deutschen gilt nämlich die nützliche Regel, dass Infinitivgruppen dasselbe Subjekt haben wie der Hauptsatz, von dem sie abhängen. Da die Frauen einerseits vorwerfen, andererseits getäuscht wurden, haben beide Satzteile dasselbe Subjekt. Die Unsicherheit rührt daher, dass der geübte Leser nach „vorwerfen“ eine Handlung erwartet – nämlich das Verwerfliche, was man dem anderen vorwirft. Hier aber ist es ein Erleiden, das den Frauen widerfahren ist. Der Gedanke ist gegen den Strich gebürstet, aber grammatisch korrekt ausgedrückt.
Fast korrekt ist das Feedback der Woche. In dem Satz Wir legen 30 % mehr Eier zuvor, so stellte man kundenseitig mit Recht fest, fehlte etwas. Allerdings nicht ganz soviel, wie dann nachgeliefert wurde: Wir legen 30 % mehr Eier als wie zuvor.
Schönes Wochenende!