Freitag, 2. Dezember 2022

Ganz anders

 

Heute, o überaus ordnungsliebende und gedächtnisstarke Lesehäschen, meldet sich euer Ergebener mit einem Anliegen in eigener Sache. Hat jemand mein Buch gesehen? Hier zeigt sich schon, wer liest und wer nur lesen kann. Den Ersteren ist klar, dass ich mehr als ein Buch besitze und dass „mein Buch“ jenes meint, das ich gerade lese. Beziehungsweise lesen würde, wenn ich es denn fände. Es klingt nämlich ganz nett, einen Zweitwohnsitz nutzen zu können, und ist es auch großteils. Jedoch geht damit viel Suchen einher, weil das Gewürz, das Küchengerät, das Werkzeug, das man gerade nötig brauchte, oder eben das Buch du jour am jeweils anderen Ort herumliegt, und zwar immer. Man kann sich darüber ärgern, man kann sich damit abfinden, oder man entscheidet sich für die einzig erfolgversprechende Lösung, indem man möglichst viel Glumpert doppelt kauft. Danke, willhaben! Bei Büchern ist das freilich nicht so prickelnd, wer will schon eine doppelte Bibliothek ansammeln.

Im Anlassfall ist die Sache besonders heikel, weil es sich um einen Teil einer Werkausgabe handelt, vier Bände im Schuber, und wenn da einer fehlt, wirkt das so charmant wie ein ausgeschlagener Vorderzahn.

Deshalb, ihr Teuren, falls euch Band 4 der ziemlich neuen Zsolnay-Werkausgabe von Mechtilde Lichnowsky unterkommt: Das ist eventuell meiner.

Natürlich könnt ihr das Buch, ehe ihr es mir wiederbringt, lesen. Ihr solltet sogar, denn bei etlichen Werken der Frau Lichnowsky läuft es einem kalt über den Rücken bei der Erkenntnis, dass jemand so großartig schreiben und dennoch so gründlich in Vergessenheit geraten kann. Lest An der Leine, lest Der Gärtner in der Wüste und lest ganz besonders Kindheit. Noch nie ist dem Zweckdichter etwas begegnet, das so selbstverständlich und unprätentiös daherkommt und sich dann beim näheren Hinschauen als nie Dagewesenes entpuppt. Hier warten Sprachbilder, die niemand zuvor gefunden hat, in einer fein gesponnenen und zugleich so kompromisslos entschlossenen Prosa, dass man nur immer weiterlesen will, sogar und gerade, wenn man erfährt, wie hundsgemein man nach heutigen Maßstäben als kleines adliges Mädchen im späten 19. Jahrhundert erzogen worden ist und wie selbstverständlich man doch zu einem Menschen aufwachsen konnte.

Das schönste Kompliment für Kindheit hat der nicht genug zu preisende Herr Z. gefunden, was niemanden verwundern wird, der ihn kennt. Darauf angesprochen, was er davon halte, erwiderte er, er gehe „wie auf Zehenspitzen“ durch den Text. Genauso ist es, meine Teuren: Man fürchtet geradezu, durch den Akt der Lektüre etwas in Unordnung zu bringen. In Hemingways Death in the Afternoon, seinem großen machismo-Gesang, gibt es irgendwo eine ziemlich schwülstige Stelle über einen Stierkämpfer, der so großartig ist, dass ihn zu töten ebenso verbrecherisch wäre wie die Federn am Halse eines Falken zu zerzausen, wenn man sie nie wieder in die Ordnung bringen könnte. So wie die Falkenfedern ist Lichnowskys Schreiben. Leset und werdet ein kleines bisschen glücklicher. Danach bringt mir bitte das Buch vorbei. Schönes Wochenende!


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