Freitag, 10. Juli 2015

Cannes-Edition


Das diesjährige Werbefestival in Cannes war für mich einschneidender als ich gedacht hätte. Denn ich muss mich von einem alten Freund verabschieden, dem bisher unglaublichsten Gewinner eines Filmlöwen: In jenem japanischen Spot aus den frühen 90er Jahren warb eine sehr fröhliche Robbe für Toiletten, die, typisch Japan, alle Stückeln spielten.
Das war einmal. Seit Cannes 2015 ist der unglaublichste Gewinner in der Kategorie Film dieser Nike-Spot, und wer ihn noch nicht kennt, ist herzlich eingeladen, ihn sich jetzt anzuschauen. 

Na? War euch so fad, dass ihr (falls männlich) euren Bart wachsen gespürt habt? Mir schon. Wenn ihr mich fragt, dauert der Spot subjektiv so lange, wie man braucht, um eine warme Mahlzeit aus frischen Zutaten zu kochen, diese zu verzehren und danach auf der Couch zwei Kapitel aus einem guten Buch zu lesen oder. Dieser Spot, und ich sage das als einer, der über die Jahre mehrere hundert Cannes-Spots gesehen hat, ist der langweiligste Filmlöwengewinner, der mir je untergekommen ist.

Nun interessiert mich natürlich, warum er gewonnen hat. Den kindischen Erklärungsversuch, dass die Juroren doof waren, lassen wir beiseite. Die anderen Gewinnerspots sind ja tipptopp. Was hat die Jury daran überzeugt?
Mal sehen: Kleiner Junge ist ein Fan von einem total tollen Sportler. Strengt sich vollrohr an, auch ein toller Sportler zu werden. Schafft es irgendwann, gemeinsam mit dem noch tolleren älteren Sportler zu sporteln.
Just do it.
An der Story kann es nicht liegen. Ich lasse mich gerne von Menschen mit Cannes-Jury-Erfahrung korrigieren, aber ich hoffe sehr, dass Storys von diesem Kaliber normalerweise aus dem Bewerb fliegen, ehe die Juroren dasselbe nach Cannes tun.
Am Star kann es auch nicht liegen. Es hat schon jede Menge Spots mit Stars gegeben, die keinen Löwen bekommen haben.
Es kann nur daran liegen, dass die Story anscheinend wahr ist. Den jungen Profigolfer Rory McIlroy gibt es wirklich. Es hat ihn ganz bestimmt viel Mühe gekostet, Profigolfer zu werden. Und es mag wohl sein, dass er Tiger toll findet.
Also imitiert das echte, wahre Leben die Kunst. Wie geil ist das denn? Dafür hat das Leben eine der höchsten Auszeichnungen verdient, die die Kunst zu vergeben hat. Denn wahr ist ja bestimmt noch besser als gut erfunden, oder?
Ich finde: oder.
Denn erstens mal ist Werbung keine Kunst. Auf diesen Unterschied lege ich als Werbetexter wert, und ich bin sicher, dass jeder Künstler mindestens ebenso großen Wert darauf legt.
Zweitens haben Kunst und Werbung trotzdem etwas gemein: Beide gibt es in gut und in eher mau. Wird eine abgegriffene Geschichte in der Werbung besser, weil das Leben sie mir schon vorher erzählt hat? Wohl kaum. Das ist der Schmäh, mit der uns Verlage seit Jahrzehnten True-Crime-Wälzer anzudrehen versuchen, und die traurige Mechanik, mit der Guido Knopp im Historiker-Business bleibt, auch wenn der hermeneutische Mehrwert fadenscheiniger ist als die Kreditwürdigkeit eines griechischen Heiratsschwindlers. Wahrheit ist wichtig, aber ich finde es gefährlich, wahr mit relevant zu verwechseln. 

Deshalb bitte, liebes Cannes: Flunkere mir nächstes Jahr wieder was Lässiges vor. Wahr ist auch das Telefonbuch. Aber wenn ich mich auf meine Toilette mit klimatisierter selbstreinigender Brille und HD-Empfang zurückziehe, nehme ich mir garantiert was Spannenderes mit.

Ach ja, Penny Arcade haben auch eine Meinung zu Rory

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