Freitag, 9. September 2016

Dicke Bücher, dicke Frauen

Herrschaften, ich werde alt. Was noch mehr ist: ihr auch. Ihr habt diese Kolumne noch nicht fertiggelesen, da seid ihr dem Grab schon wieder ein bisschen näher. Selber schuld, dabei hättet ihr die Zeit nutzen können, um Pokémons zu fangen (wie Norbert Hofer) oder den Fang von Pokémons zu verdammen (wie Harald Vilimsky). Was ist eigentlich die liberale Position zum Fang virtueller Ungeheuer? Gibt es überhaupt eine PoPo (Pokémon-Position), die noch nicht autoritär besetzt ist?
Meine Position wären ja prinzipiell dicke Romane. Dicke Romane schätze ich seit Jahrzehnten. Ob das jetzt der Zauberberg ist oder der Mann ohne Eigenschaften, Herr der Ringe oder Cryptonomicon, der Großmüthige Feldherr Arminius oder die Aubrey-Maturin-Serie – wenn ein Buch dick ist, hat es bei mir schon einmal einen Sympathiebonus. Ist vielleicht nicht das anspruchsvollste Kriterium, aber es gibt schlechtere. Also sprach ich neulich zu mir, jetzt liest du Anna Karenina. Hast du noch nie gelesen, hat die Probe der Zeit bestanden, und dick ist es außerdem. Wird schon nicht so sein wie die Kreutzersonate, was bis dahin das Einzige war, das ich von Tolstoi gelesen hatte.
Nun, verehrte Lesehäschen und Freunde der Weltliteratur russischen Ursprungs, ich habe ein Geständnis zu machen. Ich finde Anna Karenina etwas langweilig. Was die Figuren so treiben und warum, das ist mir von Anfang bis Ende recht gleichgültig geblieben. Die Betrachtungen über den ganz besonderen Bezug des russischen Landarbeiters zur Scholle haben mich nicht in ihren Bann gezogen. Anna selbst hat so gar nichts außer einer Affäre. Kurz: Es war nicht meins.
Also sprach ich erneut zu mir: Alter, du wirst alt! Früher ein dickes Buch nach dem andern, und jetzt an unverlierbaren Kulturschätzen rummeckern! Reiß dich zusammen! Und ich ging hin und kaufte mir die Dämonen – von Doderer, nicht von Dostojewskij, bei den Russen bin ich jetzt eine Weile vorsichtig.
Nun ist es so, dass die Dämonen mir bis jetzt sehr gefallen. Wer’s nicht kennt: Es spielt in Wien, in den 20er Jahren. Es gibt mehr Figuren als in der U6. Die allermeisten Frauen sind ziemlich wohlbeleibt. Dies spielt im Verlauf des Romans eine wichtige Rolle. Die (meistenteils dicken) Frauen teilen sich in zwei Kategorien: Es gibt die, von denen Doderer erklärt, sie seien schön. Und dann gibt es noch die, von denen er sagt, sie seien wirklich schön. Woran man schon sieht, was für ein g’feanzter Hund der Doderer war, denn wenn die einen wirklich schön sind, wie sehen dann die Schönen aus? Kann man diesem Erzähler nun vertrauen oder nicht? Das sind so Fragen, die einen umblättern machen. Tolstois Erzähler, und darin gründet vielleicht seine Reizlosigkeit für mich, dem kann man blind vertrauen, immer und jederzeit. Sollte mir, was ich nicht hoffe, einmal etwas Dramatisches zustoßen, dann ließe ich mir gern, allzugern von Tolstois Erzähler unter die Arme greifen, über die Straße helfen oder das Bett richten. Wenn es hingegen darum geht, das mir Zugestoßene in Worte zu gießen, die auch jemanden interessieren, dann doch lieber Doderer.
Hier stehen wir jetzt: Ich finde mehr Genuss in einem Buch, dass mir von dicken Frauen erzählt, die möglicherweise schön sind oder auch nicht, in dem es eine 50seitige Schilderung eines gefakten Hexenprozesses in Frühneuhochdeutsch gibt und in dem ohne Unterlass ständig alle in sich und einander hineinhören, als an der Tragödie einer russischen Adligen voll großer Gefühle, Pferderennen und weißichnochalles. Mir scheint, mein Pokémon hat eine Schwäche für Mehlspeisen. Aber ich lese lieber weiter. Wenn Norbert Hofer es fangen mag, dann bitte.

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