Freitag, 3. März 2017

Erogene Zone

Dass man älter wird, merkt man anfänglich an erfreulichen Dingen (Mopedführerschein, legaler Alkoholkonsum), später an lästigen (Ziepen im Rücken, zunehmende Fehlsichtigkeit, sich öffnende Schere zwischen Ehrgeiz und Karrierezufriedenheit) und schließlich an kleinen, aber grundlegenden Verschiebungen. Ich spreche nicht davon, dass der Zeigefinger bei der Bedingung eines Mobiltelefons wieder wichtiger ist als der Daumen, oder dass man mehr streamt und sich weniger auf die Programmkompetenz der Fernsehkapazunder verlässt. Das ist nachvollziehbar und ergibt sich aus den geänderten technologischen Umkuschelungen. Nein, ich spreche zum Beispiel vom Aufstieg der Sockette, a.k.a. „Sneakersocke“. Die schleichende Welteroberung durch die Sneakersocke ist ein Beispiel für eine Änderung, die stattfindet, ohne dass jemand sagen könnte, warum eigentlich, sodass man resigniert den Kopf schüttelt und sich ein kleines, aber entscheidendes Bisschen älter fühlt. Früher trugen wir Socken, ohne uns Gedanken darüber zu machen, warum eigentlich. Die nachrückende Generation trägt Socketten, und das offenbar ebenfalls ohne überschießenden Hirnschmalzverschleiß. Denn theoretisch ist mir die Sockette zugänglich. Ich verstehe, dass man Sneaker ungern ohne Socken trägt, ich verstehe auch, dass es ästhetisch fragwürdig sein kann, wenn aus dem Sneaker die Socken herausschauen, während die Hose ungefähr auf Knieniveau endet, und erst recht verstehe ich den subtilen Reiz des lauen Lüftchens, das in der warmen Jahreszeit die Knöchel umspielt. Aber was ist zu anderen Zeiten? Was sagt es mir, wenn ich eines kühlen Februartages auf der Rolltreppe stehe und vor mir vier Paar Teenagerknöchel sehe, die es sich zwischen Hochwasserhose und Sneakerkante chillig machen? Ist das gemütlich?
Wikipedia will mir weismachen, dass die Sneakersocke in Halbschuhen getragen werde, „um nicht über diese hinauszuragen“. Genauso gut könnte da stehen, dass ab sofort nur noch Bungalows gebaut werden, um nicht „über die Büsche hinauszuragen“. Seit wann ist „über etwas hinausragen“ schlecht? In Dandykreisen gilt es noch heute als ungehörig, Socken zu tragen, die im Sitzen bei übergeschlagenem Bein die Wade unterm Hosensaum hervorblitzen lassen.
Ich vermute vielmehr ein Revival des viktorianischen Zeitalters. Denn wie man liest, war für gar manchen damaligen Gentleman ein Hosentausch angesagt, nachdem er glücklich einen Blick auf den Knöchel der Begehrten erhascht hatte. So geil waren Knöchel mal! Und mir scheint, so geil sind sie wieder. Nur trifft sich die allseits beliebte Hypersexualisierung mit diesem altgedienten Fetisch, sodass wir uns nicht nur vor Möpsen, sondern auch vor Knöcheln nicht mehr retten können. Die Siebziger hatten ihre Strapse, die ihren Reiz aus der Eben-nicht-Verhüllung dessen bezogen, was die Dame von Welt selbst in der Zeit der BH-Verbrennungen nicht ständig herzeigte.
Heute ist jeder Quadratzentimeter auf Wunsch jederzeit sichtbar. Auf der Suche nach fühlbaren Reizen retten die Zurschaustellung von Körperteilen, deren Geilheit erst dadurch entsteht, dass wir uns bisher keine Gedanken über sie gemacht haben. So bleibt uns statt des Strapses die Bis-zum-Knöchel-Socke. Was ihnen in tausenden Clips auf einschlägigen Seiten vorgeturnt wird, hüpfen Jungpersonen nach, weil sie glauben, das müsse so sein: Entblößte Knöchel beiderlei Geschlechts, wetterunabhängig und standardisiert. Vor 130 Jahren war es ein sonderbares, aber hochgradig codiertes erotisches Spiel mit Rocksäumen und Knöpfstiefeln. Heute ist es das ästhetische Bauernopfer eines Trends, der uns möglichst viele Beinahesocken zu 5,90 im Fünferpack andrehen will. Damen und Herren, Mädchen und Knaben, hört auf eure Mütter! Tragt Socken, wenn euch unten friert!

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