Freitag, 4. Mai 2018

Fachsprache

Wir haben uns, o sprachneugierige Lesehäschen, ja schon oft und öfter mit Fragen beschäftigt, die einem bei intensiver Nutzung des Deutschen so über den Weg hoppeln. Es ist Zeit, dass wir über diesen Tellerrand hinausschauen! Deutsch ist schließlich nicht die Welt, es gibt noch andere interessante Idiome. Nun trifft es sich, dass euer ergebener Kolumnator kürzlich Gelegenheit hatte, einem Native Speaker des verbreiteten, aber meist stark akzentuierten Marketingisch zu begegnen.
Halt, halt! Ich weiß schon, was ihr sagen wollt. Ich aber antworte euch: Wir streben hier nach Bildung. Mit eurer Einstellung wüssten wir heute noch nichts über haarige Spinnen, Syphiliserreger oder David Guetta. Wer Erkenntnis gewinnen will, der muss noch scharf hinschauen, wo andere schon einen Schnaps brauchen. Deshalb hier eine Redeflussprobe, die, was selten begegnet, tatsächlich in lupenreinem Marketingisch daherkommt, wobei die Bedeutung von „lupenrein“ hier bis knapp an die Zerreißgrenze gedehnt ist.
Beim Folgenden ist zweierlei zu beachten. Erstens verwirrt unbedarfte Marketingisch-Anfänger, dass die Sprache äußerlich dem Deutschen ähnelt. Davon darf man sich nicht täuschen lassen, sonst ist kein Lernfortschritt möglich! Zweitens handelt es sich nicht um ein Rohtranskript. Ich habe hier und dort kleine Änderungen vorgenommen, zugunsten des Leseflusses. Nun los:
Unsere Values sind, dass wir zuerst immer auf elftausend Meter Flughöhe daherkommen, sonst sehen wir den Kontinent vor lauter Wäldern nicht. Entscheidend ist die time to market, deshalb muss man sich im Management nicht einmal fragen, was ist die Entscheidungslogik, sondern fünfmal. Auf dieser Flughöhe müssen wir anfangen, und dann müssen wir als erstes entscheiden: Ist der Patient schon tot? Wenn nein, braucht er eine Notoperation oder eine Schönheitsoperation? Da haben wir ein Rettungsthema, weil der Patient ein Eisberg ist, und wie es ihm geht, dabei werden wir nie weiterkommen, da können wir nur oben auf den Eisberg ein rotes Kreuz draufkleben. Wir müssen das Wasser ablassen, und dann kommt die Logik der Customer Journey, dass ich den ganzen Eisberg sehe. Denn das ist wie die Eier im Supermarkt: Ich habe den Stapel mit Todeseiern, da nützt auch die Notoperation nichts mehr. Daneben habe ich den Stapel mit den glücklichen Eiern, wo das Huhn regelmäßig Mund-zu-Mund-beatmet wird. Diese Entscheidungslogik müssen wir durch die ganze Supply Chain mitziehen. Diese Values sind extrem wichtig! Natürlich haben wir da auch ein Verkaufsthema, und wenn auf dem Eisberg low hanging fruits unter Anführungszeichen wachsen, erwarte ich mir von einem Partner, dass er diese best-practice-Logik mitgeht.
Man sieht schon, dass die Linguistik des Marketingischen noch einen weiten Weg vor sich hat. Bevor wir erfreut und erleichtert einen Langenscheidt Deutsch–Marketingisch in Händen halten, gilt es den Stein von Rosetta zu finden, der uns den Schlüssel liefert. Erst dann werden wir herausfinden, was sich in den bisher so rätselvollen Texten verbirgt. Wartet hier ein Schatz der Weisheit darauf, gehoben zu werden? Die große vereinigte Theorie von eh allem? Ist es nur die Reader’s-Digest-Version des Voynich-Manuskripts, das ja vermutlich doch nur ein aufwendiger Schmäh auf Kosten der Möchtegern-Entzifferer ist? Oder haben wir es schlicht mit einer Verkaufskeiler-Version des Rotwelschen zu tun, jener Gaunersprache, die nicht nur der Verständigung diente, sondern ebensosehr der Verschleierung des Gesagten vor jenen, die es einzutunken galt? Man darf gespannt sein!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen