Freitag, 10. Januar 2020

Selber schuld

Willkommen im neuen Jahr, o nur geringfügig gealterte, im Übrigen aber bestens erhaltene und rundum knackige Lesehäschen! Im neuen Jahr stellt sich die Frage, wie man Jugendlichen vor Augen führen kann, dass sie keinen Blödsinn machen sollen. Euer Kolumnator hat nämlich gelernt, dass es heutzutage nicht mehr statthaft ist, dies mittels der zu befürchtenden Konsequenzen zu tun.
Was schreibt er da? Gemach, die Aufklärung folgt sofort: Auf Bahnhöfen geschehen bisweilen Unfälle, und manchmal sind die Opfer junge Menschen. Diese laufen über den Bahndamm, weil sie verpennt haben und noch den Zug erwischen wollen, um zur Matheschularbeit zurechtzukommen. Oder sie stellen sich auf die Brücke und schiffen auf die Oberleitung, weil der Kevin „feig!“ gesagt hat, und was dann passiert, mag man sich gar nicht ausmalen, glaube ich. Die meisten jedenfalls nicht, hoffe ich.
Kurz: Auf Bahnhöfen soll man vorsichtig sein, auch im Interesse der ÖBB, denn wenn so ein Jungspund unter den Waggon gerät, sind die Möchtegernreisenden drei Stationen weiter ob der resultierenden Verspätung ja auf die ÖBB angefressen und nicht auf den verstümmelten Jungspund. Deshalb ließen sich die ÖBB eine entsprechende Kampagne basteln, die sich das Abschreckungsprinzip zu eigen machte: Man sah junge Menschen, die mittels der Magie von Photoshop mit bleibenden Schäden ausgestattet wurden und daher zum Beispiel im Rollstuhl saßen oder eine Beinprothese trugen. Die Botschaft war klar: Nicht über den Bahndamm laufen, sonst könntest du verstümmelt werden.
Zahlreiche Behindertenorganisationen, allen voran eine namens „Selbstbestimmt Leben Initiative Österreich“, fanden das fürchterlich unsensibel, weil die Kampagne „bestehende Vorurteile ausnützt und verstärkt“. Das Vorurteil besteht darin, dass Behinderte „als Opfer eines Fehlverhaltens dargestellt“ werden. Dabei stößt den Betreffenden nicht nur sauer auf, dass man auch auf den Rollstuhl angewiesen sein kann, ohne den entsprechenden Unfall verschuldet, ja sogar ohne einen solchen erlitten zu haben, was nur eine Verwechslung von Feststellung und allgemeinem Wahrheitsanspruch wäre. Vielmehr bemängelt die SLIÖ auch, dass die Kampagne nicht zeige, „wie mit Unfällen umgegangen und gelebt werden kann“.
Das verstehe ich nicht. Wenn jemand einen Unfall hat und deshalb nicht mehr gehen kann, dann zeigt der Rollstuhl doch, wie man mit diesem Unfall umgeht und mit den Folgen lebt? Natürlich zeigt er nicht, dass man als Rollstuhlfahrer ein voll cooles Leben führen kann mit allem Drum und Dran. Aber die Presseaussendung, die die SLIÖ rausballert, wenn die ÖBB Jugendliche vor Leichtsinn warnt, indem sie ihnen zeigt, wie lässig man es als Rollstuhlfahrer hat – die Presseaussendung würde ich gerne lesen!
Die ÖBB haben die Kampagne übrigens zurückgezogen und durch eine ersetzt, an der bisher niemand Anstoß genommen hat.
Wir lernen daraus, dass Rollstuhlfahrer und Prothesenträger sich einer wesentlich leistungsfähigeren Lobby erfreuen als als Raucher. Denn man kann zwar auch einerseits an Folgen des Rauchens leiden und trotzdem selbstbestimmt und erfüllt leben. Und man kann andererseits auch impotent werden, früh sterben, Lungenkrebs kriegen oder ein kränkliches Kind gebären, ohne jemals geraucht zu haben. Aber trotzdem ist es gesellschaftlich akzeptabel, impotente Lungenkrebskranke auf jedem Tschickpackerl damit zu konfrontieren, dass sie wahrscheinlich selber schuld sind. Es ist aber nicht akzeptabel, depperte Pubertierende damit zu konfrontieren, dass sie möglicherweise im Rollstuhl landen, wenn sie über die Bahngleise hopsen. Also Vorsicht mit dem, was ihr sagt, und schönes Wochenende!

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