Freitag, 24. Januar 2020

Erziehung


Schaut euch, o zarte und wohlschmeckende Lesehäschen, sorgfältig um, ehe ihr den Bau verlasst! Denn wie man hört, kehren die Wölfe zurück. Damit sind nicht nur Konflikte zwischen Wolf und Mensch vorprogrammiert (während Konflikte zwischen Schaf und Wolf in der Regel nur von kurzer Dauer sind), sondern auch zwischen Mensch und Mensch, und da reden wir nicht nur von den einen, die der Ansicht sind, dass der Wolf seine Chance bereits versemmelt hat und wir ihm jetzt nicht wieder die Rutsche ins Leben legen müssen, wäre er halt kein Wolf geworden, und den anderen, die finden, dass man die Wölfe jedenfalls willkommen zurück heißen soll, wenn schon die Fluginsekten den Abgang machen.
Wir reden hier auch von den Wolfskindern. Denn wenn der Wolf im Wald herumstreift, findet er früher oder später ein hilfloses Menschenkindlein, das er (bzw. die Wölfin) nicht etwa gleich aufjausnet, weil der Wolf dem Menschen niemals so Wolf sein kann wie der Mensch. Sondern sie zieht es liebevoll auf. Das Wolfskind lernt dann alles, was es können muss: das Zusammenkuscheln im Winter, die Einordnung ins Rudelgefüge und, tja, auch die Häschenjagd, so ist die Natur. Leider besteht immer die Gefahr, dass so ein Wolfskind in eine kasparhausereske Geschichte gerät, seine geliebte Pelzfamilie verlassen und sich in der Menschenwelt zurechtfinden muss. Dort ist das Wolfskind meist gezwungen, neue Ernährungsoptionen zu erschließen, abseits der schlichten Abfolge von „erst töten, dann essen“. Daher sucht es sich einen Job. Doch ihr wisst ja, wie das ist: Man kann das Wolfskind aus dem Wald holen, aber nicht den Wald aus dem Wolfskind.
Nur so ist es zu erklären, dass euer Ergebener kürzlich zum Beispiel dieses Feedback erhielt, und zwar auf die Wendung „Genießen Sie jede Menge Vorteile“: Genießen tut man ein Essen oder einen Urlaub.
Welcher Abgrund tut sich hier zwischen den scheinbar so harmlosen Worten auf! Welche Sehnsucht nach dem Rudel spricht hier aus einer Seele, die niemals die Gesellschaft eines anderen Menschen genossen hat und dem der Lebensgenuss selbst im Munde zu Galle geworden ist, seit jene Seele den geliebten Wald verlassen musste, wo das Gesetz des Eckzahns regiert! Häschen aufessen oder Urlaub bei den Wölfen im Wald – andere Genüsse sind nicht vorstellbar. Sehr traurig ist das, und unser Mitleid und Verständnis sollte diesem bedauernswerten Geschöpf gewiss sein. Wobei es sich mit Gleichgesinnten austauschen könnte, denn wie schon angedeutet: Die Wolfskinder sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Etwa auch jenes, das einen Geburtstagsgruß an treue Kunden zu verantworten hatte. Dieser war in Gestalt einer (freilich nur gedruckten, nicht gebackenen) Torte zu versenden. Die zuständige Gestaltungsabteilung plazierte die Torte auf einer Tortenspitze, wie es ja bei uns Menschen häufig vorzukommen pflegt. Das Wolfskind aber vermeldete, es sei eine Holzplatte vorzuziehen. Es schickte auch gleich ein Bild einer solchen Platte mit: Eine Scheibe von einem Baumstamm war der gewünschte Tortenträger, mit Rinde und allem Drum und Dran. Es berührt einen auf ganz eigene Art, wenn man sich vorstellt, wie die treusorgende Wolfsmutter dem Beinahe-Menschen und Noch-nicht-ganz-Wolf in ihrer Obhut doch auch einen schönen Geburtstag bereiten wollte, indem sie die zartesten Stücke der frischen Beute auf einem (wohl von Holzfällern zurückgelassenen) Baumstumpf anrichtete, und dann ein gefühlvolles Happy Birthday heulte, wobei man nur hoffen kann, dass die Beute kein Holzfäller war. Dass solche Erinnerungen sich aufs Lebhafteste einprägen und ein Leben lang die Geburtstagserwartungen formen, ist nur verständlich. Schönes Wochenende!

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