Früher, o lesefreudige Häschen, gab es in der Spatzenpost die Rubrik „Wie es früher war – wie es heute ist“. Dort lernten wir zum Beispiel, dass man einst nur einen Skistecken hatte, später aber zwei, oder dass man den Herd früher mit Holz zu heizen pflegte anstatt mit Strom. So erfuhren wir werdenden Gen-Xer, dass sich die Zeiten allmählich ändern, womit der Grundstein für so etwas wie Geschichtsbewusstsein gelegt war.
Heute ist alles etwas komplizierter, weil man nicht nur wissen muss, dass sich Zeiten ändern, sondern auch, welche Zeiten. Andernfalls ist die politische korrekte Formulierung gefährdet, wie wir vor ein paar Wochen in einem Falter-Interview mit Mithyu Sanal gelernt haben. Frau Sanal, ihres Zeichens Autorin des Erfolgsromans Identitti, arbeitet an einem neuen Werk. Anders als in Identitti wird dort, so erfahren wir, nicht durchgehend gegendert, weil der neue Roman vor über 100 Jahren spielt, und damals hatte man es bekanntlich noch nicht so mit dem Glottisschlag.
Gut, dass wir das klären konnten: In historischer Szenerie darf die Sprache der Epoche verwendet werden, auch wenn sie heutigen Sensibilitätsansprüchen nicht mehr genügt.
Außer, es ist doch anders.
Im selben Interview erklärt die woke Autorin nämlich, welcher Schwierigkeit sich die Neuübersetzerin des schwulen schwarzen Klassikers James Baldwin gegenübersieht: Baldwin verwendet nicht selten „das N-Wort“, und das kann man natürlich in der heutigen Übersetzung nicht mehr schreiben. Denn Sanal bemerkt zwar, besagtes mieses Wort meine bei Baldwin ganz häufig einfach das, wozu wir heute „Black“ sagen würden.
Abgesehen davon, dass man sich bei der Bewertung einer Übersetzung ins Deutsche, die ein englisches Wort durch ein anderes ersetzt, an die FPÖ erinnert fühlt ("wos wor mei Leistung?"), kann man nur bedauern, dass dieser Denkschritt zwar Frau Sanal zuzumuten ist, nicht aber dem Wald-und-Wiesen-Leser, der, doof wie er ist, Baldwin wahrscheinlich so liest wie die Kronenzeitung, weil er einfach nicht checkt, dass er gerade ein Buch von früher in Händen hält. So sind Leser halt. Deshalb muss man als Übersetzerin aufpassen, dass man sie nicht zu hart triggert.
Also schenkt sich Frau Sanal zu Recht das Gendern, wenn sie über das Fin de Siècle schreibt, damit ihre Leser sich so richtig in die schlechten genderfreien Zeiten hineinfühlen können. Wenn aber Baldwin ins Deutsche übersetzt wird, wird „das N-Wort“ eventuell zu weichen haben, auf dass man den Autor in seiner ganzen historischen Bedeutung genießen könne, ohne sich der Historie bewusst sein zu müssen.
Als Desiderate für künftigen triggerfreien Kulturgenuss bleiben eine bereinigte englischsprachige Ausgabe von Baldwins Werken (warum soll es den Originallesern schlechter gehen als den Übersetzungskonsumenten) sowie, man will ja nicht immer nur lesen, eine Nachsynchronisation sämtlicher vor 2015 gedrehter Filme. Man kann uns ja nicht umfassend genug vor unangenehmen Erlebnissen schützen, die aus unserer eigenen Geschichtsentfremdung erwachsen. Ausgenommen natürlich, wenn wir das neue Buch von Frau Sanal lesen. Was das alles für die Spatzenpost bedeutet, mögen Eltern von Volksschülern berichten. Schönes Wochenende!
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