Muss man, o lebenssatte Lesehäschen, wirklich noch was über Roald Dahl schreiben?
Man kann zumindest festhalten, dass aus der Debatte eine gewisse Unbedarftheit im Umgang mit Fiktionen spricht.
Für alle, die in letzter Zeit mediengefastet haben: In neuen Ausgaben von Kinderbüchern des einschlägig mit Recht berühmten Roald Dahl mögeerinfriedenruhen wurden Dinge bereinigt, dergestalt, dass Figuren nicht mehr als „fett“ oder „hässlich“ bezeichnet werden, weil man daas heutzutage nicht mehr tut. Wo man schon dabei war, wurden Frauenfiguren aufgewertet, weil es anscheinend ehrenrührig ist, von einer Supermarktkassierin zu schreiben, wenn es doch nichts kostet, stattdessen von einer Unternehmerin zu schreiben.
Sonderbar ist daran zunächst die Ansicht, dass es heutzutage „nicht mehr akzeptabel“ sei, jemanden als fett und hässlich zu bezeichnen. Damit wird die Generation Schneeflocke zur Ära Schneeflocke. Denn wenn man in den 80ern zu jemandem hingegangen wäre und gesagt hätte: „Du bist aber fett und hässlich“, dann hätte man eine Watschen kassiert. Es war nämlich, Überraschung!, auch damals nicht akzeptabel, sondern eine bewusste Provokation, die der Autor eingebaut hatte. Möglicherweise triggert das manche Gen-Z-er hart, aber auch vor 40 Jahren gab es so etwas wie Höflichkeit.
Noch seltsamer wird es, wenn man sich fragt, wessen Ausdrucksweise hier eigentlich modernisiert wird. Schon klar, dass der Herr Dahl der Autor ist. Wenn ich aber in einem Film von Buchundregietarantino sehe, wie jemandem ein Ohr abgeschnitten wird, wäre es vorschnell, zu unterstellen, dass Herr Tarantino gern Leuten die Ohren abschneidet. Denn nicht jede Darstellung ist affirmativ. Noch wichtiger: Der Autor ist nicht mit dem Erzähler identisch. Das ist offensichtlich bei Erzählungen in der Ich-Form (wobei es damit wohl bald vorbei sein wird, weil es nicht mehr statthaft ist, sich Traumata oder Benachteiligungen zu eigen zu machen, die man nicht tatsächlich durchgemacht hat). Es ist aber auch bei jeder anderen Erzählung der Fall. Wenn Herrn Dahls Erzähler jemanden als fett und hässlich bezeichnet, sollte man zumindest in Betracht ziehen, dass der Autor einen Erzähler zu schaffen beabsichtigte, der nicht so hundertpro der Sonnenschein des Lebens ist. Dass der Erzähler nicht mit dem Autor identisch ist, war schon eine 100-jährige Binsenweisheit, als der Text geschrieben wurde.
Doch nicht nur Kinderbücher werden modernisiert, auch Romane von Agatha Christie oder Ian Fleming. Die Verantwortlichen vermuten anscheinend ein Zielpublikum, das zwar des Lesens mächtig ist, dem aber jegliches Bewusstsein dafür abgeht, dass sich die Zeiten ändern. In der Spatzenpost gab es früher (apropos: gibt es eigentlich die Spatzenpost noch?) die Rubrik Wie es früher war – wie es heute ist. Da lernte man zum Beispiel, dass der Opa noch mit langen Eschenholzschiern und nur einem Stecken am Berg zugange war und dass zwischen jenem Zustand und unseren damaligen Kästle samt Dachstein-Vollplastikbock der Fortschritt lag. Wenn der James Bond der 60er Jahre eine Ansicht über „persons of color“ (sagt man noch so?) äußert, die ein ordentlicher Mensch heute nicht mehr äußern würde, erkennt man daran in erster Linie, dass das schon ziemlich lange her ist. Es sei denn, man macht sich nicht klar, dass manche Dinge schon länger her sind als andere. Wer die Maßstäbe der Gegenwart an Artefakte der Vergangenheit anlegt, hat es nicht mehr weit zur Geschichtsvergessenheit. Und was mit Leuten geschieht, die vergessen, was schon war, wissen wir (zumindest einstweilen noch): Sie sind verurteilt, es zu wiederholen. Schönes Wochenende!
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