Freitag, 12. Februar 2016

Nur geschaut


Es ist ja die Frage, was man mit seinem Leben anfängt. Diesbezüglich, verehrte Lesehäschen, kam mir neulich in der ZEIT etwas Interessantes unter. Es ging um Hobbys und wie sie unser Leben bereichern, und der ZEIT-Autor wusste zu berichten, dass Arbeiter um die Jahrhundertwende auf die Frage „was machst du?“ nicht mit ihrem Beruf antworteten („Ich bin Schweißer bei Borsig“), sondern mit ihrem Hobby („Ich züchte Tauben“). Die Erklärung lief darauf hinaus, dass die Arbeiter ihre Tätigkeit als derart fremdbestimmt erlebten, dass es für sie nicht das war, was sie selbst machten.

Freilich gibt es auch eine gegenläufige These für unsere Zeit: Nämlich, dass Bullshit-Jobs (Anwalt, Immobilienmakler, Corporate-Merger-Experte) im Vergleich zu unmittelbar relevanten Tätigkeiten (Volksschullehrer, Feuerwehrmann) deshalb so fürstlich bezahlt werden, weil das Sinnvakuum der Betroffenen mit Geld aufgefüllt werden muss. Wer seine Arbeit hingegen erfüllend findet, kann nicht erwarten, davon auch noch gut leben zu können. In der Ecke stehen Regalbetreuer oder Prospektausträger. Ihnen bleibt weder die Arroganz, mit der wir Kreativlinge und Weltverbesserer von unserem Broterwerb erwarten, dass er unser Selbstgefühl hebe, noch entsprechend Kohle.

Wie auch immer: Hobbys haben es heute schwer. Wenn man Zeit dafür hätte, verliert man sich stattdessen auf facebook und lässt sich davon beeindrucken, was andere in ihrer Freizeit Hinreißendes geschaffen haben. Und schon ist es Zeit fürs Bett. Deshalb hat euer ergebener Kolumnator seit Jahren keinem Käfer mehr beim Schlüpfen zugeschaut. Aber irgendwann kriege ich das auch wieder hin.

Selbstverständlich ist dieses Schema steigerungsfähig. In derselben Ausgabe der ZEIT habe ich gelernt, was Snapchat ist. Für alle ähnlich Verschlafenen: Snapchat ist ein soziales Medium, auf das man immer wieder mal zehnsekündige Videoclips hochlädt. Wichtig: Nach 24 Stunden wird jeder Clip wieder gelöscht. Deshalb gilt Snapchat als spontanes und mutiges Medium, anders als die bekannt staatstragenden facebook und YouTube, wo die Leute erst nach langem Sinnen ein Filmchen davon hochladen, wie sie ihrem besoffenen Freund Geschlechtsteile ins Gesicht gemalt haben (mit Töchterchens Filzstift, nicht mit Edding, man muss Mensch bleiben). Denn YouTube vergisst nicht, im Unterschied zu Snapchat.

Selbstverständlich gibt es hauptberufliche Snapchatter (Snapper? Hab ich jetzt vergessen.), die davon leben, andere daran teilhaben zu lassen, wie sie davon leben, diese daran teilhaben zu lassen. Einen davon, Riccardo Simonetti, begleitete die ZEIT zu einem Event, für das ein Fernsehsender verantwortlich zeichnete. Damit männiglich kund werde, wie geil ein Event ist, wenn sich ein ausgeschlafener Sender so richtig ins Zeug legt, handelte es sich, so die ZEIT,  bei den geladenen Gästen dieser Red-Carpet-Sause zum allergrößten Teil um Instagrammer und Snapper (Snapchatter? Hab ich vergessen), die sich selbst und einander dabei dokumentierten, wie sie auf einem geilen Event zugange waren, auf dem alle einander ebendabei dokumentierten.

Mich erinnert das an die barocken Schaugerichte: jene prunkvollen, statisch ausgeklügelten und optisch wirkmächtigen Köstlichkeiten, die bei großen Festmählern klarstellten, wo machttechnisch der Hammer hing. Nämlich dort, wo die größten und delikatesten Genüsse warteten. Vergoldete Ochsenköpfe, ganze Schwäne, Pasteten, aus denen beim Anschneiden die Hofzwerge hüpfen mussten – wo solches serviert wurde, saß bestimmt kein Nebbich.

Allein, diese Schaugerichte waren eben nur zum Schauen, nicht aber zum Verzehr geeignet, Clickbait für die Augen, aber ohne Content für den Bauch.

So entsteht uns eine herrliche Gegenwart, in der man sich nicht mehr der Mühe unterwinden muss, tatsächlich etwas zu erleben. Stattdessen werden wir der Erlebnisse anderer teilhaftig, die – und deshalb ist das kein Voyeurismus – nicht nur bloß dafür stattfinden, dass wir ihrer teilhaftig werden. Im Idealfall geschieht dort auch gar nichts anderes mehr, als dass unsere Teilhabe inszeniert wird.

Doch eine Frage beschäftigt mich seit Tagen: Hätte man Riccardo Simonetti vor hundert Jahren gefragt „was machst du?“, was hätte er geantwortet?

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