Freitag, 17. März 2023

Stillos

Der Bundeskanzler hat, o zungenfertige Lesehäschen, etwas gehalten, das heute für eine Rede durchgeht. Schon sein Vorgänger hat ja, wie hieramts beobachtet, gerne mit einer Rhetorik geglänzt, die sich im Mangel daran erschöpfte.

Einst jedoch war ein Politiker, der nicht reden konnte, kein solcher, und das galt bis in durchaus erinnerliche Zeiten. Von Churchills „we shall fight on the beaches“ über JFKs “ick bin äin Bärlina” zu Clintons “it’s the economy, stupid” wurde mit Worten entscheidend gepunktet.

Man konnte dafür auf ein Arsenal von Stilmitteln und Methoden zurückgreifen, das spätestens seit Quintilians Institution oratoria erschöpfend erfasst und kodifiziert war und dessen sich natürlich nicht nur Politiker bedienten, sondern alle, die in der Überzeugungsbranche zu tun hatten. Euer Ergebener erinnert sich an den Vortrag eines weitbeschreiten Werbeexperten, der vor vielen Jahren die Geheimnisse seiner Zunft auch in Wien kundtat. Zur Enttäuschung des Zweckdichters gab er nichts anderes zum Besten als eine Kurzfassung der quintilianischen Lehren, umformuliert im Werbesprech der Nullerjahre, mit einschlägigen Beispielen illustriert und natürlich ohne Quellenangabe.

Der Kanzler hingegen zeigt sich als guter Österreicher und gibt sich in seiner rhetorischen Nackerbatzligkeit jünger, als er ist. Früher nämlich lernte man Deutsch viel von Literatur. Heute befasst sich die Jugend stattdessen mit einer Reihe von „Textsorten“, die es zu unterscheiden und beherrschen gilt. Warum es so erstrebenswert ist, einen „Leserbrief“ oder einen „Blogeintrag“ verfassen zu können, wenn man darauf überhaupt und vielleicht nie mehr im Leben Lust hat, bleibe dahingestellt. Eine besonders beliebte Textsorte ist die sogenannte Meinungsrede, die so heißt, damit man sie nicht mit anderen Redearten verwechsle, in denen keiner Meinung Ausdruck verliehen wird. Da drängen sich zum Beispiel die Ansichtsrede, die Mirwurschtrede oder die Heiligsprechungsrede auf.

Interessanterweise gibt es, wenn man der Gewährsperson eures Ergebenen, nämlich dem Zweckdichterbalg, Glauben schenken darf, genau ein Stilmittel, das im heutigen Deutschunterricht gelehrt und auf dessen Verwendung in der Meinungsrede Wert gelegt wird. (Bevor wir weiterschreiten: Keine Ahnung, wie viele Quintilian unterscheidet, aber jedenfalls deutlich mehr als 100).)

Dieses Stilmittel, das einzige, das heutigen Schülern an die Hand gegeben wird, um Zuhörer leichter von ihrer Meinung zu überzeugen, ist die sogenannte Wippe. Die Wippe funktioniert wie die gleichnamige Installation auf dem Spielplatz, wenn diese nicht ordentlich funktioniert. Gedacht wäre sie so, dass man sich selbst leicht macht (o ich ungebildeter Schüler, wie kann ich mich nur erfrechen …), sodass die p.t. Zuhörerschaft sich umso gewichtiger fühlen darf (… vor so gebildeten Menschen wie Ihnen meine unmaßgebliche Meinung auszubreiten, die wie folgt lautet). Wer schon einmal eine echte Wippe benützt hat, erkennt sofort das Problem: Wenn nicht beide User ungefähr gleich schwer sind, wippt da nichts. Deshalb wird die rhetorische Wippe bald fad. Früher hieß das „Bescheidenheitstopos“ und war ein Werkzeug unter vielen. Heute ist es anscheinend das einzige. Hast du Meinung, machst du Wippe.

Außer natürlich, du bist Nehammer. Entweder war dem Kanzler klar, dass gespielte Bescheidenheit angesichts seiner Gaben und Verdienste bestenfalls durchschaut, schlimmstenfalls als Frotzelei aufgefasst würde, und hat sich daher sogar die Wippe erspart. Oder er ist geistig noch nicht in der siebten Schulstufe angekommen. Wie auch immer: Wir feiern die Erfindung der gänzlich rhetorikfreien Rede. Up next: die wertefreie SPÖ. Ach warte, die gibt’s ja schon. Aber trotzdem: Schönes Wochenende!

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