Freitag, 31. März 2017

Befremdungsvoll

Manchmal fehlen einem echt die Worte. Aber das, teure Lesehäschen, ist ja kein Problem. Die Sprache hält Methoden bereit, mit denen sich ohne weiteres neue Wörter herstellen lassen. Wenn man zum Beispiel ein Substantiv braucht, um das Geräusch zu bezeichnen, das beim Knutschen entsteht, bildet man einfach aus den beiden Worten ein neues und vernimmt ein Knutschgeräusch. Wenn dir das Adjektiv abgeht, um zu bezeichnen, wie sich das anhört: zack, schon steht knutschartig vor dir. Und so weiter.
Mitunter stoßen wir aber auf Worterzeugungsweisen, von denen wir nicht gewusst haben, dass wir sie brauchen. Eine, die derzeit Hochkonjunktur hat, ist –voll. Man kennt das von hoffnungsvoll, anspruchsvoll, geheimnisvoll, gefühlvoll oder, woran man sieht, wie diese Adjektive funktionieren, gehaltvoll. Lauter einwandfreie Wörter, die alle etwas gemeinsam haben: Sie vermitteln die Fülle an etwas, die in einer Situation oder einer Seele herrscht. Der Hoffnungsvolle lebt ganz der Hoffnung, eine geheimnisvolle Botschaft tut nichts als den Drang nach Enträtselung zu schüren. Und so weiter.
Also denkt sich der glattgestrickte Sprachnutzer: Du brauchst ein Adjektiv zu einem vorhandenen Substantiv? Nichts leichter als das: Häng –voll dran, und fertig ist die Gartenlaube. Sehr gern genommen wird etwa qualitätsvoll. Mit dem Wort Qualität habe ich als alter Latein-Wichtigtuer ohnehin schon mein beef, wie man in Trumpistan sagt. Denn auch heute noch kann etwas von schlechter oder mieser Qualität sein, bzw. ist die Qualität mitunter, nehmen wir uns kein Blatt vor den Mund, kacke. Qualität ist kein Wert an sich. Das zeigt auch die Duden-Erklärung von hoher Qualität, womit ihr gegeben ist, was in qualitätsvoll fehlt: die Höhe. Wozu also etwas mit Qualität vollstopfen? Es gibt doch schon einwandfreie Wörter wie z. B. hochwertig oder meinetwegen, wenn es schon Qualität sein soll, hochqualitativ. Die haben auch etwas gemeinsam: Sie behaupten nicht, dass das bezeichnete Objekt nur von hohem Wert voll sei (im Gegensatz etwa zu einem wertvollen Diamanten, bei dessen Beschreibung es mir darum zu tun ist, seinen Wert besonders hervorzuheben). Hier ist noch Platz für weitere schöne Eigenschaften. Ob das ebenfalls verbreitete, ebenfalls bereits im Duden verzeichnete qualitätvoll doofer oder gleich doof ist, möge die Nachwelt beurteilen.
Nicht ganz so häufig, aber doch gelegentlich (Standard, ich schaue dich scharf an) stolpere ich über gewaltvoll. Da können Filme gewaltvoll sein, Geburten, Protest, Sprache, Abschiebungen ... Ist das ein Anglizismus, weil das Englische in all diesen Fällen mit violent sein gutes Auslangen findet? Bei Filmen lasse ich mir gewaltvoll vielleicht sogar noch einreden, obwohl ich brutal entschieden eleganter finde. Aber eine Geburt ist doch eher schmerzhaft, traumatisch oder gefährlich – wenn es nicht gerade die Geburt von Rosemarys Baby ist. Der Protest oder die Abschiebung sind gewalttätig oder erfolgen gewaltsam (ein Unterschied, den man Klavier spielen können möchte!). Selbst der Film kann gewalttätig sein, wenn ihr mich fragt. Ich habe ja nichts gegen neue Ausdrücke. Aber sie sollten bitte treffender, präziser oder knackiger sein als die, die wir eh schon haben. Nach der Logik von gewaltvoll hingegen wird aus einem Glas Wasser ein wasservolles Glas. Da nehm’ ich doch lieber ein Bier. Voll!

Freitag, 24. März 2017

Ephemer

Es gibt, o Häscheninnen, zwei Arten von Leuten (und Häschen). Damit meine ich jetzt nicht die beiden Arten, die man braucht, damit es auch in Zukunft welche gibt. Ich spreche von einer Trennung, die sich (nicht selten, aber auch nicht zwingend, entlang einer Altersgrenze) durch die Gesellschaft zieht. Die einen von euch können anscheinend nicht genug davon bekommen, über die mehr oder weniger alltäglichen Verrichtungen ihrer Freunde und Bekannten informiert zu werden. Die anderen von uns fragen sich, ob endliche Ressourcen optimal eingesetzt sind, wenn sie dazu dienen, dich live daran teilhaben zu lassen, dass dein Haberer oder deine Haberine auf dem Jauerling einen Spritzwein trinkt / in Dubai Schaufenster jenseits der jeweiligen Einkommensklasse besichtigt / einem Künstler zujubelt / mit anderen Haberern oder Haberinen gerade eine Skiabfahrt genießt, aber eben doch nicht, denn es musste ja noch Zeit für das Foto oder den Film sein.
Ich sage nicht, zu welcher Kategorie ich mich zähle, aber ihr dürft gern raten. Kürzlich wurde ich nämlich von einem netten Kollegen darüber informiert, was ein Hauptvorteil der „Instagram Stories“ ist: Sie müssen nicht schön oder geschliffen sein, denn sie verschwinden von selbst wieder.
Auf die Gefahr hin, jetzt kulturpessimistisch und altersbitter zu klingen: Wie weit haben wir es gebracht, wenn die Attraktion einer neuen Technik darin besteht, dass sie deine kreativen Erzeugnisse ungefragt entsorgt?
Antwort: Genau so weit, wie es nötig war, um uns (und unseren Nachwuchs) vor jenen kreativen Erzeugnissen zu schützen, die in dem Moment eine gute Idee zu sein schienen. Wenn du dich dann allerdings irgendwo bewirbst, ist es Glückssache, ob das Chefhäschen beim Vorstellungsgespräch es lustig findet, dass es beim ersten Googlen ein Foto von dir gefunden hat, wie du mit andern Häschen Sachen machst, die du heute eher nicht mehr ins Internet stellen würdest. Dank Snapchat oder Instagram Stories wird dieses Problem vielleicht ein bisschen weniger virulent. Nicht jeder Blödsinn, den du mit 15 gemacht hast, kriecht wieder aus seinem Loch und beißt dich in den Hintern, wenn du mit 25 was zu Beißen brauchst.  Denn leider! leben wir mit einer Technologie, deren Gedächtniskraft wir nicht gewachsen sind. Dieses Problem ist, allem Kulturpessimismus zum Trotz, so alt wie die Kultur selbst. Als die Steinzeitmenschen Mammuts in Höhlenwände ritzten, haben sie auch nicht damit gerechnet, dass sich die Forschung 40.000 Jahre später damit befassen würde. Ebensowenig macht sich dein depperter Bua Gedanken darüber, ob ihm irgendwann Schwierigkeiten daraus erwachsen könnten, dass er schnarchend mit einem Eddingpimmel im Gesicht gefilmt worden ist. Dies, Herrschaften, ist die wahre Gnade der späten Geburt. Ein 1992 geborener Digitalgreis (kenntat mei Bua sei’!) fand sein Gesicht inklusive Eddingpimmel nach überstandem Vollrausch auf MySpace, später Facebook, embarrassingnightclubphotos.com und so weiter. Und weil es nicht gelöscht worden ist, findet man es wahrscheinlich heute noch.
Die Jungspunde hingegen, die den Substanzmissbrauch erst ab 2011 entdeckt haben, weil sie vorher noch zu klein waren, die (jetzt alle im Chor) WISSEN JA GAR NICHT, WIE GUT SIE ES HABEN. Ihre peinlichen Ausschweifungen machen sich automatisch selbst unschädlich. Was einst bei Mission Impossible dem Schutz von Spezialisten an vorderster Front des Kalten Krieges vor ihren hochgerüsteten Widersachern diente, schützt heute kleine Doofköppe mit postpubertär beeinträchtigtem Risikoeinschätzungsvermögen vor sich selbst. Hurra!

Freitag, 17. März 2017

Wie man Juden gendert

Heute, liebe Ratehäschen, ist es Zeit für ein kleines Quiz. Keine Angst, eh nur Multiple Choice. Aufgemerkt nun also, wie Professor Unrat zu sagen pflegte! Welche der folgenden Formulierungen lehrt uns am meisten über die Probleme beim Gendern?
A: Bereits zuvor hatte Großbritannien mit der „Dienstbotenemigration“ zur Rettung von zumeist weiblichen 20.000 jungen Jüdinnen und Juden beigetragen.
B: Bereits zuvor hatte Großbritannien mit der „Dienstbotenemigration“ zur Rettung von 20.000 jungen Jüdinnen und Juden beigetragen, von denen die meisten Frauen waren.
C: Bereits zuvor hatte Großbritannien mit der „Dienstbotenemigration“ zur Rettung von 20.000 jungen Jüdinnen und Juden beigetragen, wobei die Jüdinnen deutlich in der Überzahl waren.
Kleiner Tipp: Der Originalsatz findet sich in der Broschüre zur aktuellen Ausstellung „Ich bin also nun ein anderer“, die sich mit dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung des 4. Bezirks im Holocaust befasst. Leider ist die richtige Antwort A, und es tun sich zwei Möglichkeiten auf:
Entweder wollten die Autorinnen nicht nur den Juden, sondern auch den Jüdinnen offen lassen, ob sie sich als weiblich identifizieren, da der Satz ja nicht-weibliche Jüdinnen postuliert. (Ein boshafter Mensch könnte gar herauslesen, dass die Identifikation hin und wieder wechselt, da sie zumeist weiblich sind, aber nicht immer.) Dann stellt sich freilich die Frage, inwieweit das grammatische Femininum überhaupt fürs Gendern geeignet ist?
Oder die Autorinnen sind in dieselbe Falle getappt wie viele beflissene Gendererinnen vor ihnen, indem sie die Nennung beider Geschlechter als grammatisch gleichwertig mit der Einzelform auffassen, beziehungsweise die ausgeschriebene Nennung beider Formen als gleichwertig mit dem umstrittenen Binnen-I.
Das geht halt leider nicht. Vor der Sprache sind zwei Wörter immer zwei Wörter und nicht die bessere Version eines einzelnen Wortes. Der umgekehrte Fall wäre diskutabel: Bereits zuvor hatte Israel mit der „Dienstbotenemigration“ zur Rettung von 20.000 zumeist weiblichen BritInnen beigetragen, weil die BritInnen eben weiblich oder männlich sein können, während die Jüdinnen dank ihrer ü-Punkterln zumindest grammatisch immer weiblich sind.
Möglicherweise hatten die Autorinnen das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, und haben deshalb die „20.000“ zwischen weiblichen und Jüdinnen geschoben, wo die Zahl eigentlich nichts verloren hat, damit die beiden widerstreitenden Gedanken auf Distanz bleiben. Wahrscheinlicher ist aber leider, dass den Autorinnen das Forschen mehr liegt als das Formulieren. Der nächste Satz lautet nämlich: Diese kamen als HausgehilfInnen bei britischen Familien unter und stammten zu etwa einem Drittel aus Österreich. Heißt also: Eine solche Hausgehilfin hatte im Durchschnitt z. B. eine österreichische Mutter, eine österreichische Großmutter und zwei österreichische Urgroßeltern, während die übrigen VorfahrInnen aus anderen Ländern stammten.
Ist natürlich Blödsinn. Gemeint ist: Diese kamen als HausgehilfInnen bei britischen Familien unter; etwa ein Drittel von ihnen stammte aus Österreich.
TL, DR: Wenn jemand eine gute, sinnvolle, praktikable Lösung fürs Gendern hat, dann bitte her damit. Solange uns die Genderpraxis von Texten über den Holocaust ablenkt und uns Gedanken über das Dasein männlicher Jüdinnen in den Kopf setzt, sind wir aber eindeutig nicht soweit. Zumindest dann nicht, wenn unter diesen männlichen Jüdinnen eben nicht Menschen zu verstehen sind, deren Identifikation nicht dem herkömmlichen binären Schema entspricht, sondern schlicht ein semantischer Begleitschaden. Ich will nicht das Fürchterliche der Judenvernichtung gegen die Unannehmlichkeit unzureichenden Genderns aufrechnen. Ich finde es aber besser, wenn in einem Text die angemessene Behandlung des Holocausts dem Gendern im Weg steht als umgekehrt.

Freitag, 10. März 2017

Fake Birds

Verehrte Lesehäschen und -innen (Duden hält nichts vom Binnen-i, wahrscheinlich schon wegen der problematischen Entscheidung, ob man nicht besser „Binnen-I“ schreiben sollte), man redet derzeit viel von Fake News und Alternative Facts, die sich POTUS Trump innovativ zunutze mache. Das ist, bittesehr, übertrieben. Die Amerikaner jubeln uns schon seit Jahren Xe für Us unter. Beweis: Man will mir weismachen, dass nicht nur in verschiedenen Weltteilen verschiedene Vögel heimisch sind, was eine gute Sache ist, sonst müsste man auch hierzulande aufpassen, dass einem kein Emu ins Auto rennt, und einen Emu zu überfahren ist schlimmer als ein Reh, weil geschützt und lächerlicher – nein, gleiche Vögel, so die Fiktion, garten unterschiedlich schnell.  
Merkt auf: Unter euch sind welche, die nur Pilze und Pflanzen essen. Dies sei euch unbenommen. Ich für mein Teil wurde schon beim Verzehr meiner Mitgeschöpfe beobachtet. Zum Beispiel pflegt allweihnachtlich eine Gans dran glauben zu müssen, ein Brauch, in den euer Zweckdichter eingeheiratet hat. Zum Thema Gänsezubereitung gibt es zwar weniger Glaubensrichtungen als rund um den Schweinsbraten, aber immer noch mehr, als mir aus dem Stegreif christliche Konfessionen einfallen, also doch eine Handvoll. Klassisch mit Semmelknödelfülle? Mit Maroni? Mit Bratwürstel gar? Früher gab es in dem von mir befeierten Haushalt zu Heiligabend erst die Ganslsuppe, dann den Gänseleberaufstrich, dann die Gans selbst (mit Beilagen, versteht sich) und schließlich eine Malakofftorte. Ich habe den Verantwortlichen damals nahegelegt, die Gans mit Rennie (räumt den Magen auf) zu füllen, stieß jedoch auf taube Ohren. Mittlerweile speisen wir zu Heiligabend die Gans, den Rest am nächsten Tag.
Damit ist aber die entscheidende Frage noch immer unbeantwortet, und ich für mein Teil rufe gern à l’orange! Gans mit Orangen und Madeira ist die Königin der Gänse und die Gans der Könige. Das Rezept, das ich auf einer US-amerikanischen Seite dafür gefunden habe, ist großartig.
Nur die Garzeit macht stutzen. Dort heißt es, eine Gans von etwa 5,5 kg brauche weniger als drei Stunden bei 160°C. Ich habe das nicht ausprobiert, weil ich gerne eine genießbare Gans serviere. Stattdessen habe ich einen Kommentar hinterlassen, des Inhalts, dass mir die Garzeit und -temperatur zu gering scheinen.
Die Autorität auf meiner Seite ist der verdienstvolle Physiker Dr. Gruber, der nicht nur bei den Science Busters schon das verführerische 200-Watt-Hendl gebraten, sondern auch ein Kochbuch geschrieben hat. Ihm zufolge braucht eine Gans der fraglichen Größe gut viereinhalb Stunden, und das bei 200 Grad. Garziel ist übrigens in beiden Fällen eine Schenkelinnentemperatur (früher hätte man ausgerufen: geiler Bandname!) von 75°C. Mit diesen Angaben bin ich bisher gut gefahren.
Trotzdem berichten (vermutlich) US-amerikanische Nachkocher in den Kommentaren zum Rezept von guten Erfolgen, ohne die Temperatur in Frage zu stellen, ja sogar von verkürzter Garzeit für kleinere Vögel ist die Rede.
Was ist hier los? Schlüpfen amerikanische Gänse schon so halbgar wie ein Tweet von Donald the T.? Ist alles eine große Verschwörung, die uns Old-Worldler verführen soll, Sushigans zu futtern? Garen die Gänse dank Chemtrails in den USA schneller, oder fällt den Dortigen (ebenfalls dank Chemtrails) nicht auf, dass sie Ungenießbares in sich hineinstopfen? Irgend etwas stimmt hier nicht. Man verschweigt uns etwas. Irgendjemand braucht einen Aluhut, entweder die Gans oder ich.

Freitag, 3. März 2017

Erogene Zone

Dass man älter wird, merkt man anfänglich an erfreulichen Dingen (Mopedführerschein, legaler Alkoholkonsum), später an lästigen (Ziepen im Rücken, zunehmende Fehlsichtigkeit, sich öffnende Schere zwischen Ehrgeiz und Karrierezufriedenheit) und schließlich an kleinen, aber grundlegenden Verschiebungen. Ich spreche nicht davon, dass der Zeigefinger bei der Bedingung eines Mobiltelefons wieder wichtiger ist als der Daumen, oder dass man mehr streamt und sich weniger auf die Programmkompetenz der Fernsehkapazunder verlässt. Das ist nachvollziehbar und ergibt sich aus den geänderten technologischen Umkuschelungen. Nein, ich spreche zum Beispiel vom Aufstieg der Sockette, a.k.a. „Sneakersocke“. Die schleichende Welteroberung durch die Sneakersocke ist ein Beispiel für eine Änderung, die stattfindet, ohne dass jemand sagen könnte, warum eigentlich, sodass man resigniert den Kopf schüttelt und sich ein kleines, aber entscheidendes Bisschen älter fühlt. Früher trugen wir Socken, ohne uns Gedanken darüber zu machen, warum eigentlich. Die nachrückende Generation trägt Socketten, und das offenbar ebenfalls ohne überschießenden Hirnschmalzverschleiß. Denn theoretisch ist mir die Sockette zugänglich. Ich verstehe, dass man Sneaker ungern ohne Socken trägt, ich verstehe auch, dass es ästhetisch fragwürdig sein kann, wenn aus dem Sneaker die Socken herausschauen, während die Hose ungefähr auf Knieniveau endet, und erst recht verstehe ich den subtilen Reiz des lauen Lüftchens, das in der warmen Jahreszeit die Knöchel umspielt. Aber was ist zu anderen Zeiten? Was sagt es mir, wenn ich eines kühlen Februartages auf der Rolltreppe stehe und vor mir vier Paar Teenagerknöchel sehe, die es sich zwischen Hochwasserhose und Sneakerkante chillig machen? Ist das gemütlich?
Wikipedia will mir weismachen, dass die Sneakersocke in Halbschuhen getragen werde, „um nicht über diese hinauszuragen“. Genauso gut könnte da stehen, dass ab sofort nur noch Bungalows gebaut werden, um nicht „über die Büsche hinauszuragen“. Seit wann ist „über etwas hinausragen“ schlecht? In Dandykreisen gilt es noch heute als ungehörig, Socken zu tragen, die im Sitzen bei übergeschlagenem Bein die Wade unterm Hosensaum hervorblitzen lassen.
Ich vermute vielmehr ein Revival des viktorianischen Zeitalters. Denn wie man liest, war für gar manchen damaligen Gentleman ein Hosentausch angesagt, nachdem er glücklich einen Blick auf den Knöchel der Begehrten erhascht hatte. So geil waren Knöchel mal! Und mir scheint, so geil sind sie wieder. Nur trifft sich die allseits beliebte Hypersexualisierung mit diesem altgedienten Fetisch, sodass wir uns nicht nur vor Möpsen, sondern auch vor Knöcheln nicht mehr retten können. Die Siebziger hatten ihre Strapse, die ihren Reiz aus der Eben-nicht-Verhüllung dessen bezogen, was die Dame von Welt selbst in der Zeit der BH-Verbrennungen nicht ständig herzeigte.
Heute ist jeder Quadratzentimeter auf Wunsch jederzeit sichtbar. Auf der Suche nach fühlbaren Reizen retten die Zurschaustellung von Körperteilen, deren Geilheit erst dadurch entsteht, dass wir uns bisher keine Gedanken über sie gemacht haben. So bleibt uns statt des Strapses die Bis-zum-Knöchel-Socke. Was ihnen in tausenden Clips auf einschlägigen Seiten vorgeturnt wird, hüpfen Jungpersonen nach, weil sie glauben, das müsse so sein: Entblößte Knöchel beiderlei Geschlechts, wetterunabhängig und standardisiert. Vor 130 Jahren war es ein sonderbares, aber hochgradig codiertes erotisches Spiel mit Rocksäumen und Knöpfstiefeln. Heute ist es das ästhetische Bauernopfer eines Trends, der uns möglichst viele Beinahesocken zu 5,90 im Fünferpack andrehen will. Damen und Herren, Mädchen und Knaben, hört auf eure Mütter! Tragt Socken, wenn euch unten friert!