Freitag, 25. Juni 2021

Schwanzgeschichten

 

Erinnert sich, o gedächtnisstarke Lesehäschen, noch jemand an Salon Helga? Das war, für alle nach – puh, sagen wir Anfang der 1990er – Geborenen, eine mit Recht berühmte Radiosendung der heutigen Willkommen-Österreich-Radiogesichter Stermann und Grissemann, die Freunde des sonderbaren Humors jeden Freitagabend sanft ins Wochenende gleiten ließ. (Seht mir nach, meine Lieben, dass euer Kolumnator sich gern der Illusion hingibt, unter euch seien nach 1990 Geborene.) Man war hingerissen von der Konsequenz, mit der dieselbe Pointe nicht nur unendlich breit ausgewalzt, sondern auch über Wochen ständig wiederholt wurde, man war gespannt, wie der Hotelportier auf den Scherzanruf reagieren würde, und man freute sich, dass Dean Martin noch lebte. Das Besondere am Salon war, dass er zwar auf FM4 gesendet wurde. Er war aber davor auf – festhalten! – Ö3 gelaufen. Denn einst war Ö3 nicht der Goldesel des ORF, der die Menschen vor allem in der Werbekernzielgruppe zwischen 16 und 49, gerne aber auch darüber und darunter, möglichst unauffällig vom Umschalten abhalten sollte. Nein. Ö3 war der Jugendsender. Klingt komisch, war aber so. Irgendwann war dann der Sender gemeinsam mit der Zielgruppe in ein dermaßen kaufkräftiges Alter gewachsen, dass die Jugendgeschichte sich zurückbildete wie der Schwanz einer Kaulquappe. Doch dann geschah ein Wunder, und Ö3 verwandelte sich von der Kaulquappe in die Eidechse. Diese ließ ihren Schwanz nicht verkümmern, sondern warf ihn auf der Flucht vor den Marktforschern ab, und er wurde zum bis heute munter zappelnden Jugendsender FM4. FM4 war ganz neu und ganz anders, aber Salon Helga durfte mit auf die neuen Frequenzen.

Ich stelle mir vor, dass es mit der ÖVP so ähnlich gelaufen ist. Die einstige Partei der Wirtschaft und der Wertschöpfung wuchs mit ihren Wählern irgendwann ins Pensionsalter hinein und warf ihren Gewerbeschwanz ab. Dieser wollte mit seinem einstigen Körper nichts mehr zu tun haben und zieht in Gestalt der NEOS die Blicke liberaler Gewerbetreibender auf sich. Die ÖVP ihrerseits alterte immer noch weiter, bis sie ≈ins Palliativsegment abzudriften drohte. Die Rettung nahte in Gestalt des menschgewordenen Enkeltricks Sebastian Kurz, der ihr wieder gerade so viele Frischzellen verabreichte (freilich um den Preis von eh allem, zu zahlen an die kurzschen ­– oder Kurz’schen, aufgepasst beim Apostrophgebrauch! – Familienmitglieder), dass die potenziellen Wähler ihr Kreuzerl noch hinkriegen. So zumindest vermutlich die Hoffnung des Erlöserkanzlers. Ob er die Rechnung ohne das Gerechtigkeitsempfinden der Pensionisten gemacht hat und was diese davon halten, dass das Politikwunder es sich vor lauter deppert sogar mit der Kirche verscherzt hat, wird man sehen. Einstweilen versucht ÖVP-Mikromann Andreas Hanger sein Bestes, um mit Hanger-Games (© Armin Thurnher) von der Misere seiner Gottsöbersten abzulenken, während die La-Boum-Partie der NEOS im Untersuchungsausschauss der ÖVP die Hölle heiß macht (an dieser Stelle sei ein Hut vor Frau Krisper gezogen, die das weißgott mehr verdient als so mancher ihrer 186 Parlamentskollegen).

Ob sich von der SPÖ auch irgendwann ein solches Eidechsschwänzlein trennen wird? Wir bleiben gespannt, aber die Luft halte ich einstweilen nicht an. Schönes Wochenende!

 

Freitag, 18. Juni 2021

Aus der Schule geplaudert

 

Endlich einmal gute Nachrichten, o teure Lesehäschen! Wisst ihr noch, wie euer Ergebener vor einer Weile von Sorge erfüllt war, weil der Datenschutz einfach wichtiger ist als der Virenschutz und das Contact Tracing deshalb keine Chance hat? Frohlocket, denn vielleicht gibt es einen Ausweg!

Die Sache ist nämlich so: Die letzte Zeit war nicht etwa eine schwierige, sondern, viel schlimmer, eine „herausfordernde“. Die Herausforderung bestand darin, dass die Bälger ein Gutteil der Zeit vor dem Bildschirm verbrachten. Das war einfach, solange es alle Klassenbälger gleichzeitig betraf. Dann aber teilte Onkel Faßmann die Klassen wie Moses das Rote Meer und führte den Schichtbetrieb in den Schulen ein, sodass jede Gruppe zwei Tage Präsenzunterricht hatte und zwei Tage Distance Learning und freitags alle daheimblieben.  Das war nicht einfach, weil zwar der Lehrkörper sich teilen kann, nicht aber die Körper der Lehrpersonen. In der Praxis saß deshalb die Zuhausebleiberschicht erneut vor dem Bildschirm, genoss aber nicht die heimelige Pädagogik im Teams-Meeting, sondern wurde via Webcam Zeuge, wie die jeweilige Lehrperson eine Präsenzstunde hielt, was das Laptopmikrofon weit über seine Leistungsgrenzen hinaus beanspruchte, sodass unterm Strich ein Charlie-Brown-Effekt entstand, wenn auch elektronisch vermittelt: Die Jugendlichen hörten hochgewachsenen Schemen zu, die unaufhörlich dumpfe Quaklaute ausstießen.

Deshalb fasste die Beste eures Ergebenen sich ein Herz und erkundigte sich, ob das denn sein müsse? Aber natürlich nicht, ward sie beschieden, es sei nur, weil viele Eltern Wert auf diese Form der Beaufsichtigung legten. Wo dies nicht der Fall sei, könne das Balg ruhig in Eigenregie an Lernaufträgen herumfrickeln. So geschah es auch, und alle waren glücklich.

Irgendwann war es bekanntlich vorbei mit dem Schichtbetrieb, und man versammelte sich wieder in den respektiven Bildungstempeln. Dort schaute der Lehrerkörper bisweilen über die Schultern und musste bei einem solchen Blick feststellen, dass das Zweckdichterbalg (14) auf seinem Kollegblock eine Schmierage veranstaltet hatte. Der Lehrerkörper (Mitte 30) ließ sich das Blatt geben, scannte es ein und schickte es per E-Mail den Eltern (Ende 40), um seine Besorgnis um das Fortkommen des Balgs zu illustrieren.

Das ist die gute Nachricht: Wenn ein Lehrerkörper sich Sorgen macht, weil die Mitschrift eines Lernkörpers nicht seinen Ansprüchen genügt, dann sind diese Sorgen so gewichtig, dass man die persönliche Mitschrift des Lernkörpers ruhig per E-Mail durch die Weltgeschichte schicken darf, was ja, wie wir wissen, ungefähr dem Vertraulichkeitsniveau einer Postkarte entspricht. Da tritt also der Datenschutz hinter der äußeren Form der schriftlichen Arbeit zurück. Jetzt müssen wir es nur noch irgendwie dahin bringen, dass die Lehrkörper sich stattdessen Sorgen um das Contact Tracing machen, und schon ist die Sache geritzt, weil wir uns dann um den Datenschutz nicht zu kümmern brauchen.

Restbedenken bleiben allerdings, weil das Zweckdichterbalg in der Schichtbetriebszeit auch freitags auf Distanz zum Distance Learning blieb und sich stattdessen selber mit den diversen Arbeitsaufträgen befasste. Zwei Monate später lernte man daher auf die harte Tour, dass Distance Learning am Freitag etwas anderes ist als Distance Learning im Schichtbetrieb, weshalb gedachtes Balg an sechs Freitagen hintereinander unentschuldigt gefehlt hatte, ohne es zu wissen. Außerdem lernte man, dass man zwar als Erziehungskörper noch am selben Tag ein Mail kriegt, wenn das Balg in seinem Block herumschmiert. Ist das Balg aber gar nicht da, und zwar ganze Tage nicht, und das über mehrere Wochen – dann ist das für mindestens einen Lehrerkörper noch lange kein Grund, die Eltern davon in Kenntnis zu setzen.

Bevor wir also die Pandemiebekämpfung rundweg den Lehrern anvertrauen, werden wohl noch einige Schulungen nötig sein.

Schönes Wochenende!

Freitag, 11. Juni 2021

Alles richtig machend

 

Tut ihr noch, o nicht genug zu schätzende Lesehäschen? Oder seid ihr schon? Dies ist, abseits aller Sternchen und Leerstellen, die Frage, an der sich die verschnarchte Spreu vom sprachlich aufmerksamen Weizen scheidet: Glaubt ihr mitzugehen, oder seid ihr tatsächlich schon mitgehend? Seid ihr gestaltend oder gestaltet ihr noch wie einst, als wir auf den Bäumen saßen?

Denn letzte Woche haben wir gelernt, dass nichts besser werden muss, weil alles gut ist. Diese Woche lernen wir, dass wir dafür auch nicht das Geringste tun müssen. Derzeit nämlich vollzieht sich eine Verschiebung der üblichen Ausdrucksweise, die gleich doppelt unaufhaltsam ist, weil sie sich einerseits dem Englischen anschmiegt und ihr andererseits jene zarte Unschlüssigkeit eignet, die der nirgends anstreifenden correctness erst den wahren gout des Unangreifbaren verleiht. Wovon die Rede ist? Vom Siegeszug des Mittelworts I, des Partizip Präsens. Ob es euch schon aufgefallen ist oder nicht: Die Zeiten sind nicht etwa schwer. Sie sind herausfordernd. Wir schätzen oder respektieren einander nicht, wir begegnen einander wertschätzend. Die Wendungen mit -end sind allgegenwärtig und für etwas so Erfreuliches verdächtig uneigentlich. Tun wir nun etwas oder nicht? Man weiß es nicht so genau.

Doch das ist noch nicht alles, denn nun kommt die schlechte Nachricht für alle Altspatzen, die bei Ann and Pat ausgestiegen sind, als die ing-Formen drankamen: Das Deutsche hat jetzt auch eine. Wo immer zwei oder drei vorsichtige Formuliererinnen, Formulierer oder, genau: Formulierende! zusammenkommen, da ist das Partizip Präsens mitten unter ihnen. Denn die Weisheit, dass man die Leute nach ihren Werken und also nach dem, was sie tun, beurteilen soll, ist überholt. Heute tut kein Mensch mehr etwas, stattdessen sind alle nicht etwa Tuende, sie sind tuend und haben damit einen Anglizismus verinnerlicht, von dem nun wirklich niemand ahnen konnte, dass er uns gefehlt hat. Wer ein Leitbild zu schmieden, die erwünschte Beziehung zur Kundschaft zu definieren oder eine Mission in Worte zu gießen hat, der greift umstandslos zur end-Form. Die ÖVP bietet Orientierung für ein gelingendes Leben. Die FH Campus Wien plädiert für ein wertschätzendes Miteinander. Und das Rote Kreuz verkündet: Unser Umgang miteinander ist begeisternd, unser Wirken motivierend sowie gestaltend. Na dann!

Über die Ursachen können wir nur spekulierend sein. Vielleicht hat das Partizip im Zuge der Genderei ein derart positives Damit-kann-man-nix-falsch-machen-Image gewonnen, dass sich halt jeder denkt, es wird schon passen. Vielleicht können wir alle so gut Englisch, dass wir ohne Verlaufsform nicht mehr sein können. (Einziger Wermutstropfen: Auf Deutsch ist es keine Verlaufsform, es sieht nur so aus.)

Wahrscheinlich ist die Konstruktion aber einfach so überzeugend, weil sie unsere Faulheit entschuldigt: Man muss sich nicht mehr dazu durchringen, tatsächlich zu handeln. Denn wir sind allzumal Handelnde, sodass sich der Rest von alleine ergibt. Damit ist nicht nur Adorno endlich überflüssig geworden, weil es keinen Sack zu interessieren braucht, ob es ein richtiges Leben im falschen gibt, wenn wir weder leben noch am Leben oder lebendig sind, sondern einfach lebend sind. Schließlich genügt, wenn unser ganzes Tun ein Sein geworden ist, unsere bloße Existenz, um alles richtig zu machen. Denn wer nix macht, macht bekanntlich nix falsch. Schönes Wochenende!

Freitag, 4. Juni 2021

Zufriedenheit

 

Gar mancher neigt in diesen Tagen zur Schwarzseherei, o fröhliche und lebensbejahende Lesehäschen, weil die Wirten nicht rasch genug aufsperren, weil man immer noch nicht überall hinfahren darf (oder etwa „überallhin fahren darf“? Wer weiß!) oder weil man sich auch nach der ersten Impfung noch infizieren kann, wobei euer Ergebener immerhin den jahrzehntelangen Irrtum losgeworden ist, dass man „piksen“ mit ie schreibe, was nicht der Fall ist.

Welcher Zeitpunkt wäre also geeigneter als dieser, darauf hinzuweisen, dass und warum die Lage blendend ist? Ihr fragt nach Beweisen. Gerne! Der Beweis ist das Wort zur Zeit, das linguistische Leitfossil unserer Jahre, das – also, es gibt ja Wörter mit Jahresringen. Wenn du zum Beispiel eine Schulbank aus dem Sperrmüll zerrst, in die jemand liebevoll „affengeil“ geritzt hat, dann musst du nicht lange nachdenken, um draufzukommen, dass Reagan Präsident war, als der Betreffende sich in Mathe dermaßen gelangweilt hat. Wenn der „Klomuscheltaucher mit Spaghettiausrüstung“ eine Beleidigung sein soll, feiern wir die 1970er. Und so weiter.

Die nächste Frage kann nur lauten: Woran wird man einst erkennen, dass ein Chatprotokoll in unseren Tagen gesichert wurde? Nichts leichter als das: „Alles gut“ ist die flächendeckend positive Floskel, mit der wir einander mitteilen, dass nicht etwa nur „das in Ordnung“ ist oder etwas „keine Rolle“ spielt oder die überschwängliche Dankesbezeugung „keine Ursache“ hat oder etwas „schon passt“.

Nein, es ist „alles gut“. Noch etwas Püree? Alles gut. Brauchst du Hilfe? Alles gut. War das eh okay, dass wir gestern Abend um halb elf noch bei euch reingeschneit sind und den Kühlschrank leergesoffen haben? Alles gut. Wirklich alles. Wir brauchen nichts. Noch nie war es so selbstverständlich wie gerade jetzt, einander ständig der umfassenden Vorzüglichkeit der Gesamtlage zu versichern.

Verfehlt wäre es, das Gute mit dem Okayen oder gar Palettinen in einen Topf zu werfen. Wenn alles okay ist, liegt nichts im Argen. Wenn alles paletti ist, sind die Schwierigkeiten ausgeräumt. Aber niemand käme auf die Idee, ablehnend „alles okay“ zu erwidern, wenn ihm der Gastgeber anbietet, Wein nachzuschenken. Verblüfft wäre zweifellos, wer das Partnergeschöpf fragt, ob man Bier im Kühlschrank nachschlichten soll, weil ja gestern Abend dieser Überraschungsbesuch nicht lockergelassen hat, und zur Antwort „alles paletti“ erhält. „Alles gut“ behauptet nämlich nicht, dass etwas besser ist als vorher oder besser als erwartet. Wenn „alles gut“ ist, kann der Status quo so bleiben, die Entropie hat ihren Schrecken verloren. Freilich bedeutet es auch, dass nichts Besseres nachkommt, weil jede Änderung eine zum Schlechteren wäre, wenn eh schon alles gut ist.

Und also, meine zufrieden, aber unaufdringlich schnarchenden Lesehäschen, wollen wir hoffen, dass die Welt so bleibt. Ihr könnt aufhören zu lesen. Alles gut.

Und schönes Wochenende!