Freitag, 17. Dezember 2021

Erleuchtung

 

Bevor wir uns, o festlich gestimmte Lesehäschen, in die Feiertage vertschüssen, bleibt es uns nicht erspart, zwei peinliche Fragen auf den Seziertisch zu hieven. Die erste betrifft The Raven, Edgar Allan Poes mit Recht berühmtes Gruselstück. Wie natürlich alle parat haben, sitzt das (Obacht, Prüfungsstoff!) lyrische Ich nachts in seiner Kammer und versinkt in düsterem Grübeln. Da klopft ein Rabe ans Fenster, findet Einlass, flattert auf eine Pallasbüste, die oberhalb der Zimmertür hängt, und ist von dort nicht mehr wegzubringen.

Darin steckt viel Wahrheit, weil ja allseits bekannt ist, dass Vögel gern auf Standbildern sitzen, um sich dortselbst zu erleichtern. Schlimmer als die vermutlich stattfindende Entleerung des Geflügels ist aber, dass die Lampe dessen Schatten auf den Boden wirft und die Seele des Ichs in diesem Schatten gefangen bleibt. Böse Sache, aber nun zur Frage: Wo zum Geier oder besser: zum Raben hängt die Lampe?

Denn der Rabe sitzt ja auf der Büste oberhalb der Tür, und sein Schatten fällt auf den Fußboden. Damit der Rabe sich zwischen Lampe und Schatten befindet, muss die Lichtquelle nicht etwa an der Decke hängen, sondern an der Wand direkt oberhalb der Büste.

Ich fürchte, da hat es Poe mit der dichterischen Freiheit ein bisschen übertrieben. Dorthin hängt doch niemand eine Lampe!

Wo die Lampe ist, fragt sich bisweilen auch, wer etwas von der Identitätspolitik mitkriegt. Denn es gibt einen Max Czollek, der sich einen Namen damit gemacht hat, dass er publizistisch harte jüdische Positionen bezieht, nicht ohne sich dabei auf seine Identität als Jude zu berufen. Allerdings ist Max Czollek kein Jude nach den meistenteils anerkannten Regeln, wonach sich das Judentum über die mütterliche Seite vererbt, sondern ein sogenannter Vaterjude, da er einen jüdischen Vater, aber keine solche Mutter hat. Noch allerdingserer ist er aber, wie nun bekannt wurde, auch kein Vaterjude, sondern er hat einen jüdischen Großvater, ist also das, was die Nazis einen Vierteljuden nannten.

Das ist für all jene ein Problem, die Max Czollek gut finden, aber seine jüdische Identität als Voraussetzung für seine publizistischen Positionen sehen. Dieser ideologischen Nuss nahm sich eine Knackerin namens Jana Hensel kürzlich in der ZEIT an, zumal sie sich selbst als „Anhängerin der Identitätspolitik“ outet. Auf ungefähr einer Seite (und die ZEIT hat bekanntlich große Seiten) schwurbelt sie sich durch die Problematik, von der doch in Wahrheit nichts übrig bleibt als dieses: Man kann natürlich der Ansicht sein, dass Max Czollek ungeachtet seiner Herkunft wichtige, richtige oder zumindest diskussionswürdige Positionen vertritt. Wenn man aber identitätspolitisch überzeugt ist, dann darf man dieser Ansicht nur sein, wenn einem Max Czollek als Jude gilt. Und das ist genau dann der Fall, wenn man sich die Sicht der Nazis zu eigen macht.  Deshalb wünsche ich mir vom Christkind einen entschiedenen Mangel an Identitätspolitik.

Schönes Wochenende!

 


Freitag, 10. Dezember 2021

Der Felber lallt selber

 

Erstens einmal, o teure Lesehäschen, gilt es einen guten Rat des Zweckdichterbalgs zu beherzigen: Wer ein langes Gedicht auswendig lernt, lernt dabei auch etwas über sich selber. Vor allem darüber, wie man am klügsten vorgeht, um sich Neues anzueignen. Außerdem tut es nicht weh, sich die Bürgschaft, das Lied von der Glocke oder Poes Raben ins Langzeitgedächtnis zu räumen. Nebenbei gelingt damit ein Gesprächseinstieg mindestens so shmoov wie mit Themen vom Kaliber Wetter (bis Anfang 2020) respektive Corona (seit Anfang 2020). Bonus: Man redet nicht über Corona.

Des weiteren soll man nicht nur Gedichte auswendig lernen, sondern auch sorgfältig rechnen. So hat Altkanzler Kurz einst nicht damit gerechnet, dass man ihm einmal draufkommen würde, weshalb der unschuldige Konstantin nun als Vorwand dafür dienen muss, dass Papa sich aus der Politik zurückzieht. Weiterhinvizekanzler Kogler seinerseits rechnet mit extrem vielen deutschen Nachbarn, wenn er im ZEIT-Interview erklärt, dass Österreich sieben Milliarden Euro für den Klimaschutz ausgibt, was so viel sei, wie wenn Deutschland 500 Milliarden ausgibt. Leider hat er nicht dazugesagt, was er als Vergleichsgröße herangezogen hat, denn eine halbe Milliarde Einwohner hat Deutschland jedenfalls nicht.

Dies einerseits.

Andererseits ist Rechnen stark überbewertet, wie das Beispiel von Christian Felber zeigt. Der Gute war hieramts schon vor Jahren zu Gast, weil er in einem Interview erklärte, dass schöne Männer ein gutes Verhältnis zu ihren Füßen hätten und dass der Kommerzfußball zu stark vom Ergebnis dominiert sei (vermutlich im Unterschied zur Liebesbäckerei, zur Neigungsgruppe Fahrradbau oder der Ich-tanz-dir-einen-Haarschnitt-WG, wo jeweils eher wurscht ist, was dabei herauskommt, Hauptsache, alle haben einander dabei lieb).

Dieser Felber selber hat vor einem Weilchen die 30 Gründe veröffentlicht, deretwegen er sich nicht impfen lässt. Ich spare mir den Link und gebe euch stattdessen das Executive Summary. Spoiler: Die sogenannten 30 Gründe sind in Wahrheit nur drei, nämlich erstens: Felber ist schlecht im Lesen (hierher gehören Gründe wie „ich ernähre mich gesund und tanze viel imWald“, denn wenn er lesen könnte, wüsste er mittlerweile, dass eine robuste Konstitution nicht vor einer Ansteckung und schon gar nicht vor einem schweren Verlauf oder long Covid schützt).

Zweitens: Felber ist schlecht im Rechnen, weshalb er ungefähr jede Statistik fehldeutet, die ihm unterkommt. Dass er zum Beispiel auf das hier schon besprochene Simpsons-Paradoxon hereinfällt, ist quasi ein Ghörtsich für einen wie ihn.

Drittens: Felber bleibt er selber. Als Grund für seine Impfverweigerung führt er deshalb auch an, dass mehr an Medikamenten gegen Covid geforscht gehört. Anders gesagt: „Ich kaufe mir kein Fahrrad, weil Trittroller effizienter sein könnten.“ Und natürlich, das ist ganz wichtig: Er lässt sich nicht impfen, weil die Pharmakonzerne an den Impfstoffen Geld verdienen. Ein gestandener „Gemeinwohl-Ökonom“ nutzt und konsumiert ja nur Leistungen und Produkte, die von den Urhebern und Herstellern um Gottes Lohn bereitgestellt werden. Christian Felber selbst nimmt für einen Vortrag 2.000 Euro, wenn er sie bekommt – „lassen Sie uns gerne sprechen, was möglich ist“, heißt es auf seiner Website. Da ich stark bezweifle, dass dieser Satz im Wittgensteinschen Sinne gemeint ist und noch stärker befürchte, dass er besagen soll: „Gerne bespreche ich mit Ihnen, welches Honorar Sie sich leisten können“ – deshalb also würde ich persönlich keinen Vortrag von jemandem buchen, der offensichtlich nicht nur im Lesen und Rechnen, sondern auch im Schreiben und Sprechen noch Luft nach oben hat.

Schönes Wochenende!

 


Freitag, 3. Dezember 2021

Privatentscheidung


 

Die Witze, o vielgeliebte Lesehäschen, über das Abtreten des Erlöserkanzlers macht bitte jeder selber. So lustig ist die Arroganz, mit der unser Altbasti uns verkauft, es sei ja ganz selbstverständlich, dass man nach stattgehabter Fortpflanzung erst einmal eine Runde „Zeit mit der Familie“ verbringt anstatt zu hackeln, weil es sich halt sonst nicht ausgeht, aucht nicht, noch auch die Geschwindigkeit, mit der die zweite Republik auf italienische Taktung (fünf Kanzlerwechsel in vier Jahren) zusteuert. Für das Argument, es sei Zeit zum Aufhören, wenn man für seine Tätigkeit nicht mehr „brenne“, wird vielleicht so manche Regaleinräumerin, so mancher Paketbote bestenfalls ein Alzerl Verständnis aufbringen.

Fragen wir uns stattdessen, wie wir weitertun. Nicht selten hört man mahnende Stimmen, die vor einer Spaltung der Gesellschaft warnen, die uns drohe, sollte, anstatt weiterhin „Impfangebote“ zu machen, die anscheinend keine Sau interessieren, obrigkeitlicherseits der Impfdruck erhöht werden. Zuletzt stand so etwas in irgendeinem Schweizer Medium, glaube ich. Man kann dem nur zustimmen: Es ist keineswegs erstrebenswert, die Gesellschaft zu spalten. Bedauerlich ist aber, dass die Spaltung nur im Bereich des Impfens abgelehnt wird, während wir sie sonst vollrohr okay zu finden scheinen. Es hat sich bisher noch niemand darüber beschwert, dass man einen Führerschein braucht, um auf öffentlichen Straßen zu fahren, obgleich dies bei näherem Hinsehen eine nicht weniger schreiende Ungerechtigkeit darstellt als jene, die durch eine Zweigeplus-Regelung im Bereich des Einzelhandels entstünde. Wie kommen die Führerscheininhaber denn dazu, für sich das Privileg des Fahrzeuglenkens in Anspruch zu nehmen? Ist die Entscheidung für oder wider die Führerscheinprüfung nicht eine zutiefst private, von welcher die Teilhabe an grundlegenden Kulturtechniken wie dem Autofahren unbeeinträchtigt bleiben sollte?

Noch mehr Spaltungspotenzial wohnt dem Strafrecht inne, das mir nichts, dir nichts die Gesellschaft in solche spaltet, die im Häfen sitzen, und solche, die sich noch auf freiem Fuß befinden. Auch hier schweigen die Mahner unverständlicherweise. Aber die Sache beginnt ja schon bei den Kleinsten, nämlich im wortwörtlichen Sinne. Bereits auf dem Rummelplatz wird beinhart gespalten in solche, die schon hinreichend aufgeschossen sind, um mit der Hochschaubahn zu fahren, und solche, die, weil vorerst zu kurz geraten, nur neidisch zuschauen dürfen, sorry, erst ab einmeterzwanzig. Sollten wir nicht gerade die Schwächsten der Gesellschaft davor schützen, schon im zartesten Alter solchermaßen abgespalten zu werden?

Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich gibt es gute Gründe dafür, dass man manches nur unter bestimmten Voraussetzungen darf.

Bestimmt gibt es auch gute Gründe dafür, die Impfrate anders als durch Zwang steigern zu wollen. Die Vermeidung einer „Spaltung der Gesellschaft“ ist aber eher kein solcher Grund, weil wir halt täglich ganz gut damit leben, dass die Gesellschaft gespalten ist in solche, solche und noch andere. So lange man sich deswegen nicht den Schädel einschlägt, ist das kein Problem. Schönes Wochenende!