Man kann, o bildungsbeflissene Lesehäschen, in gelockerten
Zeiten nicht nur locker ein Bierchen trinken (vielleicht nicht gerade im Anzi,
denn so, wie es dort dieser Tage zugeht, fehlt nur ein Superspreader, um die Schleifmühlgasse ins nächste Kitzloch zu verwandeln), nein, man kann
auch wieder einmal was dazulernen. Heute widmen wir uns, und ich weiß auch
nicht, warum ich dabei an unsere Bundesregierung denken muss, der Hybris.
Wer im Gegensatz zu eurem Ergebenen klug genug war, nicht Altgriechisch
zu wählen, dem sei auf die Sprünge geholfen: Die Hybris ist die Vermessenheit, infolge derer der Mensch
sich gegen die Götter auflehnt. Um den jungen Menschen vor Vermessenheit zu
bewahren, wurde das Textbeispiel erfunden. Angeblich soll es eine Brücke
zwischen Lebenswirklichkeit und zu übenden Rechenoperationen schlagen,
tatsächlich aber dient es der Vertiefung transzendentaler Sachverhalte.
In der Volksschule ist das noch einfach: Du hast eine Torte,
die Mama schneidet sie in zwölf Stücke, von deinen fünf geladenen Gästen dürfen
zwei keine Torte essen, weil Nüsse drin sind, wieviele Stücke bleiben übrig?
Schon hat der kleine Fresssack gelernt, dass Völlerei der Planung bedarf.
Auch in der Oberstufe ergeben sich Textbeispiele wie von
selbst: Ein Mathematiker sitzt im Lockdown
und langweilt sich. Weil er nichts richtig Mathematisches forschen will,
rechnet er im Kopf die Maturaaufgaben von vor zwanzig Jahren nach: Einer Kugel
wird ein Würfel eingeschrieben, diesem wieder eine Kugel, und so ad inf.
Berechne das Volumen … und so weiter.
Am interessantesten ist es aber dazwischen, mit Aufgaben wie
dieser: „Ein Händler gewährt auf einen
Fernseher 8 % Rabatt. Dieser beträgt 55 Euro. Wie hoch war der ursprüngliche
Preis?“ Das hat offensichtlich nicht das Geringste mit der
Preisauszeichnung im Mediamarkt zu tun, wo man mit solchen Rätseln garantiert
keinen Riss machen könnte, aber sehr viel mit der elementaren Ungewissheit, in
die uns die Frage stürzt, ob wir jetzt ein gutes Geschäft gemacht haben. Wir
werden es nie erfahren. Uns bleibt nur die Entsprechung von 8 % und 55 Euro.
Aber was kriegt man heutzutage schon für 55 Euro?
Vollends deutlich wird der wahre Zweck an Textbeispielen wie
diesem: „Eine Säule mit quadratischer
Grundfläche soll verfliest werden. Gegeben sind die Höhe der Säule und das
Volumen. Berechne, wie viele Fliesen benötigt werden.“
In der Geschichte des Heimwerkertums war niemand jemals mit einem solchen
Problem konfrontiert. Wie auch? Du misst ja nicht die Höhe, stemmst dann die
Säule heraus, legst sie ins Wasserbad, bestimmst anhand des gestiegenen
Wasserspiegels das Volumen und berechnest dann die Dicke.
Sinn ergibt dieses Textbeispiel erst, wenn wir es als Gleichnis im biblischen Sinne lesen:
In deinem Häschenbau steht eine solche Säule. Wie es in Coronazeiten
schon so geht, denkst du dir, Fliesen wären eine gute Idee. Du misst die Höhe
und schickst dich an, den Zollstock anzulegen, um die Dicke zu messen. Doch das
wäre – na? Genau! Das wäre vermessen! Die
Natur und auch die aus ihr entstandene Säule ist nicht dafür da, dass du dich
messtechnisch an ihr zu schaffen machst. Um deiner Hybris einen Riegel
vorzuschieben, erscheint vor dir eine menschenähnliche, aber von innen golden
leuchtende Gestalt, die möglicherweise Flügel hat. Mit donnernder Stimme
spricht sie also zu dir: Halt ein,
vermessener Vermessender! Das Volumen der Säule beträgt 192 Kubikdezimeter. Die
Höhe ist dir bereits bekannt. Berechne die Dicke und daraus die Oberfläche. Nun
gehe hin und miss fortan nicht mehr.
Soviel zum tieferen Sinn von Textbeispielen. Schönes
Wochenende!