Freitag, 16. Dezember 2022

Zahltag

 

Wir haben, o meine betuchten Lesehäschen, vor drei Wochen etwas ungebührlich unter den Tisch fallen lassen: Am 25. November war Katharinentag und damit Tag der Abrechnung. In verschiedenen Regionen hatten sich nämlich einst verschiedene Tage eingeschliffen, zu denen es üblich war, Dienstverträge auslaufen zu lassen, neue abzuschließen und auch Schulden zu begleichen. Wo euer Ergebener herstammt, war dies der Katharinentag. Nicht etwa, weil die heilige Katharina besonders viel mit Rechnungswesen am Hut gehabt hätte, obwohl da was dran ist: Sie soll nämlich eine Philosophin gewesen sein, die dem Heidenkaiser Maxentius und seinen besten Denkern die Überlegenheit des Christentums so überzeugend vordenken konnte, dass er sich keinen Rat mehr wusste, als sie einkerkern und hinrichten zu lassen. Jetzt aber Fun fact: Laut Wikipedia hat es eine solche Katharina nie gegeben. Ihre Legende basiert vermutlich auf dem Schicksal der nicht nur Philosophin, sondern auch Mathematikerin (daher also das Rechnungswesen) Hypatia von Alexandria, die von einem christlichen Mob getötet und zerstückelt wurde.

Wie auch immer: Am Katharinentag wurde deshalb abgerechnet, weil es der Tag einer örtlichen Kirchenpatronin war, sodass man sich bei den entsprechenden Festlichkeiten begegnete und abwickeln konnte, was abzuwickeln war. Dass das unterschiedlich erfreulich war, je nachdem, auf welcher Seite des Schuldenzaunes man stand, hat Franz Michael Felder poetisch verewigt:

 

Tag des Schreckens und der Trauer

dessen mancher arme Bauer

nur gedenkt mit Schreck und Schauer.

 

Und so weiter, denn:

Wehe, die Banknoten schwinden

und in Sackes tiefsten Gründen

ist kein Silber mehr zu finden.

 

Und dabei heizte der Mann nicht einmal mit Gas!

Auch euer Ergebener hat inzwischen den einschlägigen Brief seines Stromversorgers erhalten und findet sich also mit einer gut 80-prozentigen Tariferhöhung ab, aber was will man machen. Nur im Dunkeln und Kalten zu sitzen ist auf Dauer schon eine Daseinsform, aber nur für fiktive christliche Märtyrerinnen. Dabei hilft die hieramts in letzter Zeit schon gewürdigte Kranken- sorry, Gesundheitskasse auch nicht weiter. Die weigert sich standhaft, eine therapeutische Leistung mitzufinanzieren, obgleich sie nachweislich Erfolge bringt, weil sie „nicht von medizinischem Personal erbracht wird“. Also, wenn ich mit einer halbzerkauten Dattel in der Luftröhre blau anlaufend daliege, ist es mir wahrscheinlich wurscht, ob ein Dr. med. oder der nächstbeste Callcentermitarbeiter mir die rettende Kugelschreiberhülse in den Hals rammt, Hauptsache Sauerstoff. Aber wenn man, wie die Österreichische Gesundheitskasse, schon geschaffen wurde, um Milliarden zu sparen, und stattdessen hunderte Millionen gekostet hat, muss man sich wohl nach der Decke strecken. Schönes Wochenende!


Freitag, 2. Dezember 2022

Ganz anders

 

Heute, o überaus ordnungsliebende und gedächtnisstarke Lesehäschen, meldet sich euer Ergebener mit einem Anliegen in eigener Sache. Hat jemand mein Buch gesehen? Hier zeigt sich schon, wer liest und wer nur lesen kann. Den Ersteren ist klar, dass ich mehr als ein Buch besitze und dass „mein Buch“ jenes meint, das ich gerade lese. Beziehungsweise lesen würde, wenn ich es denn fände. Es klingt nämlich ganz nett, einen Zweitwohnsitz nutzen zu können, und ist es auch großteils. Jedoch geht damit viel Suchen einher, weil das Gewürz, das Küchengerät, das Werkzeug, das man gerade nötig brauchte, oder eben das Buch du jour am jeweils anderen Ort herumliegt, und zwar immer. Man kann sich darüber ärgern, man kann sich damit abfinden, oder man entscheidet sich für die einzig erfolgversprechende Lösung, indem man möglichst viel Glumpert doppelt kauft. Danke, willhaben! Bei Büchern ist das freilich nicht so prickelnd, wer will schon eine doppelte Bibliothek ansammeln.

Im Anlassfall ist die Sache besonders heikel, weil es sich um einen Teil einer Werkausgabe handelt, vier Bände im Schuber, und wenn da einer fehlt, wirkt das so charmant wie ein ausgeschlagener Vorderzahn.

Deshalb, ihr Teuren, falls euch Band 4 der ziemlich neuen Zsolnay-Werkausgabe von Mechtilde Lichnowsky unterkommt: Das ist eventuell meiner.

Natürlich könnt ihr das Buch, ehe ihr es mir wiederbringt, lesen. Ihr solltet sogar, denn bei etlichen Werken der Frau Lichnowsky läuft es einem kalt über den Rücken bei der Erkenntnis, dass jemand so großartig schreiben und dennoch so gründlich in Vergessenheit geraten kann. Lest An der Leine, lest Der Gärtner in der Wüste und lest ganz besonders Kindheit. Noch nie ist dem Zweckdichter etwas begegnet, das so selbstverständlich und unprätentiös daherkommt und sich dann beim näheren Hinschauen als nie Dagewesenes entpuppt. Hier warten Sprachbilder, die niemand zuvor gefunden hat, in einer fein gesponnenen und zugleich so kompromisslos entschlossenen Prosa, dass man nur immer weiterlesen will, sogar und gerade, wenn man erfährt, wie hundsgemein man nach heutigen Maßstäben als kleines adliges Mädchen im späten 19. Jahrhundert erzogen worden ist und wie selbstverständlich man doch zu einem Menschen aufwachsen konnte.

Das schönste Kompliment für Kindheit hat der nicht genug zu preisende Herr Z. gefunden, was niemanden verwundern wird, der ihn kennt. Darauf angesprochen, was er davon halte, erwiderte er, er gehe „wie auf Zehenspitzen“ durch den Text. Genauso ist es, meine Teuren: Man fürchtet geradezu, durch den Akt der Lektüre etwas in Unordnung zu bringen. In Hemingways Death in the Afternoon, seinem großen machismo-Gesang, gibt es irgendwo eine ziemlich schwülstige Stelle über einen Stierkämpfer, der so großartig ist, dass ihn zu töten ebenso verbrecherisch wäre wie die Federn am Halse eines Falken zu zerzausen, wenn man sie nie wieder in die Ordnung bringen könnte. So wie die Falkenfedern ist Lichnowskys Schreiben. Leset und werdet ein kleines bisschen glücklicher. Danach bringt mir bitte das Buch vorbei. Schönes Wochenende!