Freitag, 29. April 2016

Zutreffendes ankreuzen


Heute ist der 29. April. Das heißt, übermorgen in drei Wochen schreiten wir zur Stichwahl. Dann wollen wir uns mal rechtzeitig mit Norbert Hofer befassen. Immerhin stehen die Chancen nicht schlecht, dass er unser nächster Häschenpräsident wird! Da ich kein Journalist bin, solltet ihr euch allerdings investigativ nicht zu viel erwarten. Da schaue ich doch lieber auf www.norberthofer.at, und dort nicht etwa unter „Positionen“. Nein, Aufschlussreiches gibt der Kandidat unter „Persönliches“ als Antwort auf „12 Fragen“ der Gewichtsklasse „Wochenendbeilage“ von sich preis: „Lieblingsfigur in der österreichischen Geschichte: Joseph II.“. Damit ist der Ton angeschlagen: Eher nicht anecken. Was Hofer an dem glücklosen Reformer im Vergleich etwa zu Maria Theresia, Leopold Figl oder Gütinand dem Fertigen findet, muss man gar nicht so genau wissen.

In dieselbe Kerbe haut das „Buch für die Insel“: Sinuhe der Ägypter war, für alle nach 1980 Geborenen, ein Historien-Bestseller der 40er und 50er Jahre, kongenial verfilmt mit Michael Curtiz. Und so weiter und so fort – Stärken: „Willenskraft und Optimismus“. Schwäche: „Mir fehlt manchmal die Gelassenheit, Dinge so hinzunehmen, wie sie sind“ – diesen Einserschmäh kennen wir aus Bewerbungsratgebern der 80er Jahre, gleich neben „Ich neige dazu, mein Licht unter den Scheffel zu stellen“.

Etwas kantiger dann die Auskunft, was den Kandidaten „zur Verzweiflung“ treibt: „dass die aktuell an der Macht befindlichen Politiker innerhalb von wenigen Monaten alles verspielen, was unsere Eltern und Großeltern aufgebaut haben“. Die Verzweiflung kann ich gut verstehen. Hat doch Hofers politischer Vorfahr in scharfem Kontrast zur aktuell konstatierten Situation Jahre gebraucht, um alles zu verspielen, was unsere Kinder und Kindeskinder andernfalls hätten aufbauen können.

Stutzen macht auch, bei welchem Gedanken Herrn Hofer das Wasser im Mund zusammenläuft: „Es gibt nichts Besseres als einen frischen Apfel.“ Ob dieser Grad der Genussfähigkeit für den Einzug in die Hofburg reichen wird? Können wir uns eine menschgewordene Visitenkarte der Republik vorstellen, deren geschmacklicher Horizont bei Fruchtsäure endet? Was sagen da die Vertreter der Rindfleischkultur, die Käsekenner und Marmeladenköche, die Winzer, Mangalitzaschweinezüchter und Paradeiserpäpste?

Ich fürchte, da wird der Kandidat allerlei auszustehen haben, wenn er erst angelobt ist, von exotischen Staatsbanketten ganz zu schweigen. Freilich, nach einem Augapfel mag ein Apfel wirklich einzigartig delikat wirken.

Zum Zeitphänomen wird Hofer jedoch erst durch seine Enthüllung, auf welche Leistung er besonders stolz ist: „Auf den Schritt aus dem Rollstuhl“.

Das, Herrschaften, war’s dann. Es tut mir im Rahmen meiner Möglichkeiten leid für den Kandidaten, dass er einen schweren Unfall erlitten hat. Wie er mit den Folgen klargekommen ist, geht mich aber nichts an. Es sollte für Österreich völlig unerheblich bleiben, ob der Kandidat sich auf eigenen Beinen fortbewegen kann oder nicht. FDR war dazu kaum imstande, doch hat er gewiss nie kundgetan, er sei besonders stolz darauf, trotzdem Karriere gemacht zu haben. Gründe mag es dafür mehrere geben, doch ein gravierender Unterschied des politischen Formats der beiden wird jedenfalls dazugehören, wobei der Vergleich nicht zu Hofers Gunsten ausfällt. Mir scheint der Schritt aus dem Rollstuhl, so erfreulich er zweifellos für den war, der ihn getan hat, ebenso relevant, als stünde dort ein Verweis auf die soundsolange Nikotinenthaltsamkeit, einen gewonnen Skiweltcup oder den Sieg im Bratwürstelwettessen, Gramatneusiedl 1997. Da brauche ich mich gar nicht mehr mit seinen „Positionen“ auseinanderzusetzen. Wenn der größte Stolz eines politischen Aspiranten sich aus seiner eigenen Körperlichkeit ergibt, weiß ich hinreichend über ihn Bescheid. Und dieser Bescheid lautet leider: HBP Hofer wird uns nicht erspart bleiben. Zu perfekt bringt er ein Klima auf den Punkt, dem es nicht genügt, gehen zu können, sondern dafür Anerkennung erwartet. Hofers Stolz auf seine wiedererlangte Gehfähigkeit gedeiht auf demselben Boden wie jene Art von Vegetariern, die nicht nur mit sich zufrieden sind, sondern denen ihre Ernährungsweise gleich zur Selbstzufriedenheit gereicht, die es sozial zu teilen gilt, während sie misstrauisch auf den Teller des Carnivoren schielen, der sie nichts angeht. In einer Welt, der jedes Selfie relevant scheint, ist eine solche Genesungsgeschichte geradezu unwiderstehlich wählbar. Wir sehen uns am 23. Mai wieder.

Freitag, 22. April 2016

Willkommenskultur


„Böse Menschen haben keine Lieder“, heißt es, und das, teure Lesehäschen, wirft ein strahlendes Licht auf euren Kolumnator. Denn ich selber singe zwar eher nur duschentauglich. Aber auf unserem Balkon hat sich vor einer Weile ein Amselpaar zwecks Fortpflanzung niedergelassen, und die Amsel bzw. der Ämslerich gelten ja mit Recht als Topkräfte im Singsegment. Dass Ernst Jandl gerade diese Art als „wahren vogel“ erkoren hat, sei nur nebenbei bemerkt, zumal es nicht jedermanns Sache ist, dem Tier mit einer „schere zart und fein“ die Beine zu amputieren.

Also, Amseln sind echte Superviecher, will ich damit sagen. Sie sind von weitem hoch sympathisch, wenn sie auf dem Ast sitzen und zwitschern. Die Amsel besticht durch Possierlichkeit, wenn sie einen Regenwurm aus der Erde zu ziehen sich müht und dabei den Hals lang, länger und noch lääänger streckt – ein Dehnbarkeitswettstreit auf Leben und Tod: Gehen die Halswirbel auf Anschlag, ehe der Wurm den Halt verliert, oder umgekehrt?

Auch aus der Nähe ist eine Amselmutter sooo lieb. Sie sitzt im Nest, schaut dich mit blanken Augen an und rührt keine Feder. Du denkst dir, das ist jetzt schon sehr nah, aber sie rührt sich immer noch nicht. Auch wenn du dich schon ganz klar innerhalb des Radius befindest, wo eine Amsel ohne Nachwuchsmotivation das Weite suchen würde: Die bleibt sitzen wie festgefroren. Und schaut.

Trotzdem entdeckt man als ungefragter Quartierwirt eines solchen Brutpaares bald dunkle Seiten an sich selbst. Ich sage nur: Kot, und das ist noch höflich formuliert. Die deutliche Formulierung lautet: Wenn der Balkon erst vollgeschissen ist, fangen sogar in der Wolle gefärbte linksliberale Intellektuelle an der Willkommenskultur zu zweifeln an. Und schon ist es passiert: Hat man es sich einmal geschehen lassen, die Vogelscheiße nicht gut zu finden, rutscht man mit steigendem Tempo ins Lager der Amsel-Pegidisten.

Immerhin hat sich das Paar ungefragt und praktisch illegal auf unserem Balkon – ja, wortwörtlich: eingenistet, wenn auch nicht ins gemachte Nest gesetzt. In einer Nacht- und Nebel-Aktion sind die beiden über die Grüne Grenze gekommen, womöglich hat ein Schlepper, der sich natürlich im Hintergrund gehalten hat, da einige fette Würmer eingestrichen. Und als sie da waren, zack, sofort Asyl im Blumenkisterl beantragt.

Und dann natürlich gleich Kinder in die Welt gesetzt. Sind die jetzt automatisch Balkonbürger?

Gesichert ist: Die Familie hat sich perfekt unterm Efeu integriert, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die Eltern sind auffällig fleißig, was freilich für die autochthone Balkonbevölkerung auch einen gewissen Konkurrenzdruck bedeutet. Nehmen uns die unsere Jobs weg? Und es fällt auf, dass weder die Alt- noch die auf meinem Balkon aufgezogenen Jungvögel auch nur ein Wort Balkonisch sprechen, obgleich verblendete Gutmenschen gerade der Amsel große Sprachbegabung nachsagen bzw. andichten. Das Fazit muss leider lauten: Ich habe den Kampf gegen meinen inneren Identitären verloren und muss mich hiermit von der Scheißliberalität verabschieden, auf dass mein Balkon wieder scheißfrei werde. 

Wo ist die Alle-Vöglein-Türkei, mit der ich ein merkelwürdiges Abkommen schließen kann, auf dass keine Amselflut über meinen Frischluftausleger hereinbricht? Wo der Böhmermann, der den Vögeln unter der Gürtellinie auf die Eier geht?

So fühlte ich mich vor zehn Tagen.

Mittlerweile haben aber die Amseln die zweite Brutrunde eingeläutet, und es hat Slavoj Žižek uns erklärt, dass es weder zielführend ist, das Fremde (also die Amsel) abzulehnen, weil fremd, noch, das Vertraute im Fremden zu suchen und umarmen zu wollen (was die Amsel sich ohnehin nicht gefallen ließe). Vielmehr gilt es uns selbst fremd zu werden, sodass wir alle einander fremd sind und quasi von Null weg zu einem zukunftsträchtigen Umgang mit dem Fremden finden können. In diesem Sinne habe ich meinen mir fremden inneren Identitären von fehlgeleiteter Gewalt abgehalten, ihn aber das Blumenkisterl von der Innen- an die Außenseite des Balkons hängen lassen, in der Hoffnung, dass damit alles besser wird. Danke, Slavoj.

Freitag, 15. April 2016

Klare Verhältnisse


Heute, Vehrerteste und Teure, ist der Tag der Eindeutigkeit.   Den führe ich hiermit ein, damit sich jede einmal eine sprachliche Freude machen kann. Das heutige Datum ist so gut wie frei – wir kommen damit weder dem „Tag der Kosmonauten“ in die Quere noch dem Weltzugvogeltag, dem Tag des Fahrrads, der Huren oder dem Home Movie Day. Zwar begeht Nordkorea heute seinen Nationalfeiertag, aber ich denke, da ist noch Platz für einen weiteren freudigen Anlass.
Also: Tag der Eindeutigkeit. Das sind gleich zwei Geschenke auf einmal, also zwei Drittel vom guten alten Überraschungsei, das in scharfem Kontrast zum weniger tollen aktuellen Überraschungsei steht, weil nach derzeitiger Ferrero-Firmenpolitik Bausätze für Spielzeug, das man dann jahrelang vom CD-Regal in die Schreibtischlade und zurück übersiedelt (ja, ich habe noch ein CD-Regal!), aus höchstens drei Teilen bestehen dürfen, und das wird schnell fad.
Nun denn. Inspiriert, soviel Zeit muss noch sein, ist der Tag der Eindeutigkeit von der österreichischen Version der Grand Old Party. Denn es war ganz eindeutig vorbestimmt, dass Frau Mikl-Leitner und Herr Sobotka die Plätze tauschten, ob vom Schicksal oder vom Onkel, das spielt keine Rolle. Abzuwarten bleibt freilich, ob ihre Bestimmung sich für die beiden so erfüllen wird wie für zwei gewesene Aschenputtel,  die jetzt einer Zukunft voller Glitzer und Einhornstreicheln entgegensehen, oder eher so wie für Gollum, für den es leider eindeutig unausweichlich war, versehentlich in die Feuerklüfte des Schicksalsberges zu stürzen, damit der Ringträger seinerseits der schicksalhaften Fügung Genüge tun konnte.
Jetzt aber zur Eindeutigkeit. Es gibt ja Wörter, die sich nicht recht entscheiden können, was sie heißen wollen. Das ist, wenn ihr mich fragt, unproblematisch etwa bei „Bank“ oder „streichen“. Sitzgelegenheit oder Geldsammelanstalt, mit Farbe bedecken oder aus dem Umfeld kicken – diese Dinge sind so weit voneinander entfernt, dass sie einander nicht ins Gehege kommen.
Aber da draußen auf der endlosen semantischen Prärie, wo ungezähmte Adverbien sich nur selten finden, weshalb man so selten kleine Adverbien sieht – dort flattern, kreuchen oder galoppieren Partikel oder gar urtümliche Substantive herum, die gern sie selber wären und außerdem so etwas Ähnliches. Das kann unangenehmes Jucken hervorrufen.
Mein solches Wort ist „dereinst“. „Dereinst“, das bestätigt zu meinem Leidwesen auch das Deutsche Wörterbuch, weist sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft: „Dereinst war es ganz normal, sich für eine Besprechung einen Besprechungsraum zu suchen.“, wie auch „Dereinst wird es gar keine Besprechungen mehr geben, weil alle vom ständigen Besprechen am Arbeitsplatz ertaubt sind.“
Ich finde, das ist zu viel. Damit kommt der Tag der Eindeutigkeit ins Spiel. Denn der ist nicht nur so ein Nullachtfünfzehn-Tag – aha, heute also Aktionstag „Rettet die Kastanien“ (zweiter Samstag im November, gleich rot anstreichen!), immerhin ham’s Glück mit dem Wetter. Schaun wir mal, was neues in der Tagespresse steht.
Nein, am Tag der Eindeutigkeit kann jede von euch so richtig was bewirken. An diesem Tag darf jede entscheiden, welche Bedeutung ein zweideutiges Wort ab jetzt eindeutig hat. Deshalb bitte gleich einmal merken: „Dereinst“ weist ab sofort nur mehr in die Zukunft. Für die Vergangenheit gibt es ja genügend Auswahl, wie zum Beispiel „ganz früher“, „vor langer Zeit“, „damals“ oder auch „einst“, das übrigens gerne weiterhin auch Zukünftiges herbeiwinken darf, da stört es mich seltsamerweise gar nicht.
Falls ihr auch ein Wort am Scheideweg habt, dann bitte sehr: Heute ist eure Gelegenheit, es auf die richtige Seite zu stupsen.
 Einen Stups könnte auch ZEIT-Autor Moritz Baumstieger vertragen. Er berichtet, wie er einmal in Tel Aviv ins karnevalistische Purimstreiben geraten ist und begeistert war. Also schnell zurück ins Quartier (vermutlich AirBnB) und unter den Sachen des Vermieterpaares nach geeigneter Verkleidung gesucht. „Bis die beiden am nächsten Morgen zurückkommen würden, würde ich schon alles wieder verstaut haben.“
Abgesehen von der etwas ungraziösen Fülle an Würde: Sagen Sie mal, Herr Baumstieger, geht’s noch? Wenn einem schon das Minimum an Gespür fehlt, das die meisten von uns davon abhält, aus einer Laune heraus die privaten Besitztümer von Wildfremden zu durchwühlen, sagt einem dann nicht wenigstens ein dumpfes Ziehen in den vom Dauergrinsen müden Mundwinkeln, dass man den eigenen Verstoß gegen die guten Sitten nicht auch noch als, hach!, Anekdote in Deutschlands gebildetstem Wochenblatt ausbreiten sollte?
Anscheinend nicht. Wir brauchen auch noch einen Tag des halbwegs ordentlichen Benehmens. Den gibt es nämlich bisher nicht.

Freitag, 8. April 2016

Konjunktiv und Politik

Lesehäschen, -rammler und selbstverständlich mitgemeinte Häschengenders, wieder einmal zeigt sich, dass das Leben der Grammatik hinterherhechelt. Denn mit einer ordentlichen Consecutio temporum und einer Beherrschung des Unterschieds zwischen Indikativ und Konjunktiv hätten wir weniger moralischen Stress mit Maßnahmen zur Problemlösung.
Hä?
Geduld, meine Lieben. Es geht um die Frage, wo bzw. wann genau man ansetzen soll, um einem Missstand (ja, das schreibt man jetzt leider so. Für alle Ästhetiker: Mißstand. Gern geschehen.) abzuhelfen. Die Kommentatorinnen und Kommentatoren, deren Meinung man vorzugsweise auf Facebook teilhaftig wird, wissen: Wir müssen bei den Ursachen ansetzen.
Und schon ist das Unglück geschehen, ob es um die Flüchtlingskrise geht, um Leseschwäche bei Volksschulabgängern, um mangelnde Akzeptanz der arbeitsrechtlichen Wahlmöglichkeiten für Väter, um sexistische Übergriffe oder um Terroranschläge.
Denn natürlich ist es ein Blödsinn, dass wir, wenn wir akut mit einer Problematik zu kämpfen haben, jetzt bei den Ursachen ansetzen müssen. Wir HÄTTEN bei den Ursachen ansetzen müssen, vorige Woche oder letztes Jahr oder vor zehn Jahren. JETZT müssen wir leider erst einmal die Symptome angehen. Ich befand mich einmal in einem Haus, das sich anschickte, vom Hochwasser durchfeuchtet zu werden. Die Ursache war vielleicht die Klimaerwärmung, vielleicht ungeeignete oder mangelnde Verbauungsmaßnahmen, oder gar ein Flügelschlag, der einem Schmetterling in Feuerland zur Unzeit ausgekommen war. Bis deren Bekämpfung in die Gänge gekommen wäre, hätten sich im Keller schon die Forellen Grüß Gott gesagt. Ähnlich ist es mit sexuellen Übergriffen: Wie kürzlich geschrieben, gehören deren Ursachen auf jeden Fall bekämpft. Aber wenn du eine Hand am Hintern spürst, solltest du außerdem einen Plan B für jetzt gleich haben (also das geeignete Äquivalent zu ein, zwei Wasserpumpen, um die dreckige Plörre wieder ins Freie befördern).
Doch wir reflektierten, liberalen, sozial verständnisvollen Abendländer haben uns eine Grammatikschwäche wachsen lassen, dank derer wir weder einsehen, was wir gestern hätten tun sollen noch, was wir jetzt tun müssten. Wir wissen dafür immer ganz genau, was wir morgen, ja morgen tun werden: das Übel an der Wurzel packen! Aber bestimmt!
Beziehungsweise werden wir es packen lassen, oder auch nicht. Nach den Anschlägen in Brüssel legte man von der eigenen staatsbürgerlichen Wachheit Zeugnis ab, wenn man anprangerte, dass die Staaten nun die Gelegenheit nutzen, sich weitere Überwachungsbefugnisse zu sichern, wo sie doch besser daran täten – na was? Genau: die Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen. Nun bin ich sicher der letzte, der einer ins Kraut schießenden Überwachungsstaatlichkeit das Wort reden wollte. Ich erlaube mir aber die Frage: Was wir Besonnenen denn jetzt und hier von den Staaten erwarten, die wir uns ja auch leisten, um Terroranschläge hintanzuhalten? Und ich schicke gleich eine haltlose Behauptung nach: Wer dem Staat dessen mangelnde Beschäftigung mit den Ursachen vorhält, der weiß wohl genauer, dass er der Obrigkeit keine weiteren Überwachungsmöglichkeiten zubilligt, als, wie die Bekämpfung des Übels an der Wurzel auszusehen habe.
Deshalb ein Vorschlag zur Güte: Einigen wir uns darauf, dass Erste Hilfe und die Reform des Gesundheitswesens zwei verschiedene Projekte sind und dass der soeben Verunfallte von ersterer mehr profitiert als von letzterer, selbst wenn wir einen Malus dafür veranschlagen, dass die Anschauungen darüber, was eine geeignete ersthelferliche Maßnahme ist, sich mit der Zeit ändern.
Man reicht heute kein Riechsalz mehr, aber das beweist weniger gegen das Riechsalz als gegen das Korsett. Freilich HÄTTE man sich einst eher vom Korsett verabschieden sollen. Die Geschichte zeigt aber, dass das leider eine Weile gedauert und bis dahin die eine oder andere Besinnungslose immerhin vom Riechsalz profitiert hat.
Davon, dass mein Ansinnen unreflektierter, wenn nicht sogar populistischer Aktionismus ist, bin ich leicht zu überzeugen: Der nächste Besonnene, der vom Brandgeruch aufwacht, rufe nicht die Feuerwehr, sondern reiche eine Petition zur Bauordnung ein. Wenn er in seine leergeräumte Wohnung heimkehrt, spende er flächendeckend an gemeinnützige Organisationen, um der Kriminalität ihren Nährboden zu entziehen, anstatt sich an die Polizei zu wenden.
Bis das geschieht, üben wir alle noch einmal den Konjunktiv II: Ich hätte früher anfangen sollen, mir einen Bart wachsen zu lassen. Dann stünde mir jetzt eine Hecke im Gesicht, und ich könnte mit den anderen Hipstern Filzpappenpoker darum spielen, wer im Standard-Forum als nächstes die Bekämpfung der Ursachen wovon auch immer einfordern darf.

Freitag, 1. April 2016

Der unsichtbare Dritte


Die Stilistik, liebe schier unwiderstehlichen Lesehäschen, kennt den Begriff der „uneigentlichen Rede“: Wörter tragen nicht die Bedeutung in sich, die außen draufsteht, sondern eine, die ihnen erst im rhetorischen Zusammenhang zuwächst. Unser hochverehrter Herr Kulturminister Josef Ostermayer hat sich in einem kürzlich gewährten Interview um die Kultur, speziell die Sprachkultur, verdient gemacht, indem er dem Begriff eine neue, umso überzeugendere Bedeutung faktisch-performativ eingeschrieben hat. Denn wer das Interview liest, fragt sich nachher, wer zum Geier hier eigentlich geredet hat?

Kurzer historischer Exkurs für die ganz kleinen Lesehäschen: Josef Ostermayer ist ein gelernter Jurist, der sich alsbald auf Wohnrecht spezialisiert und es nach sieben Jahren bei der Mietervereinigung zum Chef des Wiener Wohnfonds gebracht hat. Danach ist er im Sog Werner Faymanns Minister für Kultur und noch so allerlei geworden. Seine erste Amtshandlung bestand darin, Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann zu schassen, weil der als ausgewiesener künstlerischer Leiter in der Buchhaltung nicht hinreichend genau hingeschaut hatte. Nichts profiliert einen frischgebackenen Kulturminister mit solidem Background in Wohnrecht so rasch wie die Trophäe eines kapitalen Burgtheaterdirektors. Das unterstelle ich jetzt einfach mal, weil ich bezweifle, dass die Demontage des Hartmanns und die sonstigen Umstellungen substanziell etwas gebracht haben. Inwiefern zum Beispiel die Streichung der Kartenpreisermäßigung für Kinder Österreich kulturell viarehaut, das soll mir der hochverehrte Herr Bundesminister tiefempfunden vortanzen. Davon zu schweigen, dass die wunderbaren Familienstücke sich in den aktuellen Burg-Spielplänen rar machen wie brauchbarer Aufschnitt beim Merkur.

Nun aber zum Interview. Ostermayer verlautbart gleich im dritten Satz sein Programm: Er wolle zu dem immer noch laufenden Verfahren „nicht Stellung nehmen.“ Klar, dass dann doch Stellung genommen wird, aber von wem? Eine Frage später heißt es: „Die Annahme, dass irgendwelche Unterlagen nicht herausgegeben worden wären, würde ich in Kenntnis der handelnden Personen zurückweisen.“ Durch diese Konjunktive muss man erst einmal durchsteigen, damit einem klar wird: Anscheinend kennt er die handelnden Personen nicht. Aber wer redet dann von ihnen? Und wer weist zurück?

Weiter geht’s: „Wo Verjährungsfristen eintreten könnten, wurden entsprechende Schritte gesetzt und von Wirtschaftsprüfern ein Verjährungsverzicht eingefordert. Wo dieser nicht abgegeben wurde, haben wir eine Feststellungsklage abgegeben.“ Hier gibt es zwei, vielleicht drei handelnde Personen: uns, den/die Urheber der Schritte, und eventuell die Wirtschaftsprüfer, je nachdem, ob diese die Fordernden waren oder die Adressaten der Forderung. Der wichtigste Akteur, der die Schritte gesetzt hat, bleibt auf jeden Fall im Dunkeln. Wen deckt Ostermayer hier?

Aufklärung bleibt aus: „Wenn es von Wirtschaftsprüfern über lange Zeit uneingeschränkte Bestätigungsvermerke gab, auch das Kontrollsystem betreffend, kann man der Holding oder den Aufsichtsräten schwer vorwerfen, sie hätten genauer hinschauen müssen.“ Gab es jetzt oder gab es nicht? Wenn es gab und man nicht vorwerfen will, wozu gibt es dann die genannten Instanzen? Vor allem aber: Wer ist man? Offenbar ein Abwartender im Hintergrund. Die Zukunft bleibt ungewiss, nicht zuletzt für Ostermayers Leibprojekt, das Haus der Geschichte: „Für heuer haben wir Vorsorge getroffen.“ Sagte der Minister Ende März.

Alle, die schon einmal Cyrano de Bergerac gelesen oder den Film gesehen haben, dürfte bei diesem Interview ein Gefühl des Déjà-vu beschlichen haben. Es ist, als hätte der Standard Christian de Neuvillette interviewt. Nun hoffen wir auf ein baldiges Gespräch mit Cyrano, der Neuvillette/Ostermayer eingesagt hat. Wer weiß, wessen Ohrs er sich noch sicher sein darf!